Nicht genug
Während ich laufe, gehen mir die Gedanken durch den Kopf. Sie bewegen sich im unendlichen Kreis, einer nach dem anderen. Nach einigen Kilometern kehre ich in meinen Gedanken wieder zu dem Moment, in dem ES passiert ist, zurück.
Heute habe ich den größten Fehler meines Lebens gemacht.
Ich habe ihr nicht geholfen.
Sie saß dort, hilflos, am Boden, in einer roten Pfütze. Das Blut lief ihr die Arme hinunter. Sie war noch nicht ohnmächtig, sie saß nur da mit gesenktem Kopf und atmete kaum. Aber sie atmete.
Die improvisierten Verbände aus meinem zerrissenen T-Shirt halfen kaum. Weiß ist zu Rot geworden. Die Rettung sollte bald da sein.
"Bleib bei mir! "
Sie hörte mich. Ich wusste es, sie hörte mich, aber sie wollte den Kopf nicht aufheben. Sie wollte die Augen nicht öffnen.
Dann wurde sie ins Spital gebracht. Die Sanitäter haben mir gesagt, ich hätte alles richtig gemacht.
Warum läuft sie jetzt dann nicht neben mir? Warum kann ich ihr süßes Lachen nicht mehr hören? Warum erzählt sie mir keine Geschichten mehr?
Sie war schon immer so dickköpfig, wenn es um ihre Gesundheit ging. Wenn man sie "Wie geht es dir? " fragte, schenkte sie einem nur ein Lächeln.
"Alles gut, danke. ".
Das wollte sie die anderen glauben machen. Aber ich kannte sie zu gut. Ich habe gewusst, dass sie das Haus mit Menschen teilte, die sie nicht mochte. Die schrecklichsten Dinge haben sie ihr gesagt. Danach rief sie mich immer an. Sie erzählte von den verletzenden Worten so ruhig, dass es einem vorkommen konnte, es sei für sie normal.
Aber ich wusste bescheid. Ich wusste von dem Schmerz, den sie empfunden hat, obwohl sie nie völlig zeigte, wie es ihr eigentlich ging. Zumindest konnte sie mir einen Teil ihres Leidens zeigen. Ich dachte, sie habe mir vertraut. Doch aus diesem Vertrauen ist nichts geworden.
Jetzt ist sie ein Teil von Nichts.
Ich habe ihre Familie getroffen. Sie standen da, vor dem Bett, komplett emotionslos. Die sogenannte Mutter war blass. Ganz weiß, wie die Wände im Spital.
Aus Wut konnte ich nichts sagen. Ich habe nicht gesagt, wie viel Leid sie in ihr Leben gebracht haben. Ich habe nicht gesagt, dass sie Hilfe gebraucht hat.
Ich habe nicht gesagt, dass ich ihr selber nicht genug Hilfe geleistet habe.
Ich laufe. Das Fitnessband zeigt 11 Kilometer an.
Meine Eltern haben gesagt, es sei nicht meine Schuld.
Sie wollte nicht gerettet werden.
Und trotzdem frisst mich von Innen ein Gedanke auf: "Ich hätte mehr tun müssen. ". Vielleicht, schon davor. Mehr reden. Mehr umarmen. Mehr helfen.
Ich habe sie nicht gerettet.
Ich war nicht genug.
Es ist meine Schuld.
Meine Schuld, meine Schuld, meine Schuld!
Schneller. Ich beschleunige meinen Lauf, und genauso beschleunigen sich meine Gedanken.
Schneller. Weg von hier. Weg von allen. Weg von mir selbst.
Schneller. Es ist nicht genug.
Einfach. Nicht. Genug.
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