( nicht) zuhause
Der Bus hält fast vor ihrer Haustür, aber an manchen Abenden, wenn es schon dunkel ist und die Stimmung passt, dann will sie nicht gleich nach Hause. Sie würde noch eine Runde um den Häuserblock drehen. Es sind wenige Menschen unterwegs und die Vorfreude auf den schneidenden Wind, der sie nach der zweiten Ecke erwarten würde und noch nie versagt hatte, sie ein unvergleichliches Freiheitsgefühl und Ekstase spüren zu lassen, steigert sich. Nur die Autos sausen neben ihr her, machen Krach, weswegen sie Selbstgespräche führen, schreien und schimpfen kann so viel sie will. Niemand würde sie hören oder für dieses in Gesellschaft unangebrachte Verhalten verurteilen. Sie schrumpft zu einer anonymen Gestalt, die von den Vorbeifahrenden kaum wahrgenommen wird. Ganz unerkannt im Rauschen der Motoren und Rollen der Räder.
Sie weiß, dass ihre Eltern sie zuhause erwarten, aber eine Viertelstunde würde nicht stören oder auffallen. Mit Kopfhörern in den Ohren macht sie sich auf den Weg. Mit den Kopfhörern, taub für die leiseren Geräusche um sie herum, macht sie sich verletzlich. Aber egal, soll der Mann mit dem schwerfälligen Schritt und der Kapuze, der hinter ihr geht und nicht überholen will, ruhig wissen, dass sie ein Handy bei sich hat. Sie ist stark, das weiß sie. Die Musik, die sie hört, bestätigt es. Normalerweise geht sie nie so aufrecht, plustert ihre Brust nie so auf oder bemüht sich, die Illusion von breiten Schultern zu erwecken. Sie spreizt ihre Finger, macht eine Faust, spreizt wieder ihre Finger, macht wieder eine Faust. Das ist ihre Hand und mit dieser Hand kann sie zuschlagen, wenn sie will. Aber das wird sie nicht müssen, sie macht sich zu viele Gedanken. Der Wind und der leere Gehweg vor ihr stimmen sie fröhlich, fast schon leichtsinnig. Ihr Blick wandert nach hinten. Der Mann ist weg, er steht beim Zebrastreifen, an dem sie gerade vorbeigegangen ist und wartet, dass die Ampel für ihn grün wird. Sie hat freie Bahn sie selbst zu sein. Rasch reißt sie die Mütze vom Kopf, damit der eisige Wind auch durch ihr Haar wehen kann. Die Musik braucht sie jetzt nicht mehr, schnell stopft sie die Kopfhörer zurück in die Jackentasche. Jede Sekunde ist kostbar, schließlich könnte jemand ums Eck biegen oder aus einem Haus kommen und somit ihre Anonymität beenden. Dann könnte sie nicht mehr schreien, schimpfen und mit sich selbst reden, wie sie es wollte. Was sie sagt und worüber sie redet, hört man nicht. Der Wind und die Autos verschlucken alles, was sie spricht, mit ironischen, belustigten und gequälten Gesichtsausdrücken begleitet. Da sieht sie die kleine Gruppe von ein paar Männern, die, wie sie es viel zu oft tun, vor dem einen Haustor sitzen, reden und schauen. Sie will nicht an ihnen vorbeigehen und biegt in den Park ab. Sie muss wieder leise sein, direkt neben dem Weg sind Balkone. Eilig zieht sie die Mütze über ihre roten Ohren und die erstarrten, vor Kälte schmerzenden Hände flüchten in die Jackentasche. Gleich ist sie zuhause.
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