Nie
„Nur ein Augenblick, mein Schatz!“
Ich höre, wie sich ihre Schritte entfernen. Ich vernehme eine milde Briese an meiner Wange. Ich rieche frisch gemähtes Gras. Ich spüre den Boden unter meinen nackten Füßen.
Plötzlich vernehmen meine Augen einen leichten Stich. Daraufhin drehe ich mich von der Sonne weg.
Schon immer habe ich mich gefragt, wie sie aussieht. Die Sonne. Ihr größtes Merkmal ist allerdings nicht ihr Aussehen. Sie ist bekannt für ihre imposante Kraft. Dabei ist ihr Aussehen eigentlich irrelevant. Das Wissen, wie die Sonne aussieht, ist für den Großteil der Menschen dennoch eine Selbstverständlichkeit.
So selbstverständlich, dass das Entreißen dieses Privilegs unvorstellbar wäre.
Ich würde alles für Augenlicht geben.
Obwohl es so scheint, als arbeiten meine restlichen vier Sinne doppelt so hart, werde ich mich für immer nach mehr sehnen. Das fünfte Puzzleteil für ein sinnerfülltes Leben wird mir immer fehlen. Ein Leben lang werde ich es zu greifen versuchen. Doch das Puzzle werde ich nie vervollständigen. Ein Leben lang werde ich den Wunsch verspüren, aus der Kammer der Dunkelheit zu entkommen. Ich werde versuchen, dem pochenden Gefühl meiner Unvollständigkeit ein Ende zu setzen. Doch nie werde ich diesen Umschwung meine Realität nennen. Ich werde die Irreversibilität nie besiegen.
Nie werde ich mich nach einer langen Wanderung mit der atemberaubenden Aussicht belohnen dürfen. Ich werde nie entsetzt feststellen, dass meine Haut beim Bräunen nicht braun sondern rot geworden ist. Nie werde ich die Dekoration und die Kerzen auf meinem Geburtstagskuchen bewundern können. Nie werde ich mitansehen, wie meinen Freunden ein kleines Lächeln übers Gesicht huscht, nachdem ich etwas Aufmunterndes gesagt habe. Ich werde nie sehen, wie blau eine Blaubeere ist und wie gelb eine Sonnenblume. Nie werde ich voller Bewunderung den Mund in Betracht auf kristallklares, türkisblaues Wasser aufreißen. Nie werde ich überrascht eine alte Bekanntschaft auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkennen. Das bunte, blubbernde Getränk, das mein Bruder mir zubereitet hat, werde ich nie misstrauisch beäugen. Nie werde ich sehen, wie eine fragile Schneeflocke sich in meiner Hand zu Wasser auflöst. Nie werde ich meinen neuen Haarschnitt hin und her gerissen im Spiegel betrachten und mich fragen, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe.
Nie werde ich sehen, wie wunderschön das Leben wirklich ist. Was für ein Privileg es ist, „Augenblicke“ mit den eigenen Augen zu erleben.
Ein kurzer Wimpernschlag wie das Klicken einer Kamera. Wenn die eigenen Augen nie blicken können, bekommen Augenblicke eine größere Bedeutung. Es ist nicht mehr nur ein bedeutungsloses Wort, das wir beachtungslos in die hintersten Ecken unseres Bewusstseins werfen.
Also nein, es ist nicht nur „Nur ein Augenblick mein Schatz“.
Denn meine Augen werden nie wirklich blicken können. Nie.
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