Niemandsnamen.
Er schaut das Mädchen lange an, wartet auf ihre Antwort. Verwundert, warum sie so lange brauche, um so eine einfache Frage zu beantworten.
Einfach. Es gibt wenige Worte, die ihr Leben schlechter beschreiben würden. Nicht einmal die Frage nach ihrem Namen lässt sich einfach beantworten.
Sollte sie mit Hakima antworten? Dem Namen, den ihr ihre Eltern gegeben haben? Mit dem sie ihr Vater jeden Tag in der Früh geweckt hat, als sie alle noch zusammen daheim gewohnt haben? Es ist der Name, den sie stolz auf ihre gebrauchten Schulbücher schrieb, als sie in die Schule kam, nicht ahnend, dass sie nur zwei kurze Jahre dorthin gehen durfte. Der Name, den sie von der Liste vorlasen, als sie alle Mädchen aus dem Klassenzimmer verbannten. Es ist das letzte Wort, das sie je von ihrer Mutter gehört hatte, bevor sie ihre Kinder wegschicken musste. Ein Name, mit dem zu viel Schönes und zu viel Schlimmes verbunden ist. Ein Name, der so honigbitter und wunderschrecklich ist wie ihr ganzes altes Leben, das sie zurückgelassen hat. Es ist der falsche Name für ein neues Land.
Ihr Vater hat gesagt, dass sie sich Sophie nennen solle. Es ist ein komischer Name, in einer Sprache, die sie kaum spricht, er klingt noch immer fremd in ihrem Mund. "Das heißt eigentlich auch Weisheit, genau wie Hakima", hat er gemeint. Genau ihr Name, nur in einer anderen Sprache, für ein anderes Land gemacht. Damit die Leute dort nicht sofort erkennen, dass sie fremd ist, damit sie sich schneller einfindet, schneller eine von ihnen wird. Es klang wie eine gute Idee. Damals. Heute weiß sie, wie schwer es ist, wie alle zu werden. Nicht mehr fremd zu sein in einem fremden Land. Der Name ist ein Plan, der noch nicht funktioniert hat.
Sie könnte sich Susanne nenne. Susanne Neuwirth. Das ist der Name auf dem Reisepass, den man ihr gegeben hat. Aber erst, nachdem ihr Vater ihnen sein ganzes Geld gegeben hatte. Damit sie sein Mädchen in das ferne Land bringen. Für ihn selbst gab es keinen Pass, so viel Geld hatte er nicht. Es ist ein Name, den sie vergessen möchte. Der zu viel gekostet hat, um ihn leichtfertig zu benutzen.
Haka kann sie auch nicht antworten. So hat sie nur ihr kleiner Bruder genannt. Es ist der Name, den er rief, als sie daheim über die Felder liefen, den er wisperte, als er seine Schwester auf der langen Reise um Essen anflehte. Es ist der Name, der sie immer noch verfolgt, den sie jede Nacht hört. Ein Name, den ihr Bruder nie wieder rufen wird. Und deshalb soll es auch kein anderer tun dürfen.
Mutti und Vati nennen sie Hakma. So glauben ihre neuen "Eltern", dass sie heißt. Sie geben sich wirklich Mühe, gute Atoptiveltern zu sein, ihre neue "Tochter" zu verstehen. Dabei haben sie nicht einmal ihren Namen richtig verstanden.
Niemand. Das ist der Name, der derzeit am Besten zu ihr passt. Es ist der Name, den Odysseus sich gegeben hat, aber wenn sie ihn sagt, klingt er nach Verzweiflung, nicht nach Klugheit. Es ist sicher nicht der Name, den der Bub hören will.
Deshalb schweigt sie.
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