Noch 20 Meter
Da stand ich also. Direkt über dem Abgrund, unter dem sich eine scheinbar endlose Tiefe befand, doch es waren nur 20 Meter. Ich hatte Angst. Nicht wegen der Höhe, nein darum ging es nicht, sondern um das Springen, um das Ende des Sprungs, um die Tatsache, dass danach nichts mehr sein könnte. Doch es gab keinen Sinn, oben stehen zu bleiben. Ich wollte es ihnen beweisen, ich wollte es jedem zeigen. Ich wollte all die Anschuldigungen, die um mich kreisten und mir nicht aus dem Kopf gingen, aus der Welt schaffen, wollte Aufmerksamkeit. Trotz kurzer Bedenken machte ich den einen, aber entscheidenden Schritt und so sprang ich, nein, ich fiel eher. Auf jeden Fall ging es abwärts. Noch 20 Meter … 19 … 18 … 17 … Ich wollte mit den Füßen voran hinunter, um nicht viel zu sehen. Doch als ich sprang, merkte ich, wie sich mein Körper nach vorne neigte, und da wurde mir bewusst, wie vorschnell diese Entscheidung war. Nun bereute ich mein Denken, wollte nicht mehr da hinunter, wollte zurück, zurück auf den stabilen Felsen, den Stein, der meinen Füßen so guten Halt gegeben hatte, doch stattdessen beschleunigte ich immer mehr und fiel abwärts und abwärts. 16 … 15 … 14 … Ich sah mich um. Ich hatte mir eine schöne Landschaft ausgesucht. Es war Nachmittag, die Sonne schien am strahlend blauen, jedoch mit einzelnen, kleinen Wolken besetzten Himmel. Neben meiner Plattform waren ähnliche Felsformationen, manche waren höher, die meisten fielen jedoch nicht so steil ab und so sah ich, dass ich den richtigen Felsen gewählt hatte, wäre er nur nicht so hoch. 13 … 12 . . . 11 … 10 Meter. Schon war die Hälfte geschafft, da schoss es mir plötzlich in den Kopf: Was ist, wenn danach wirklich alles aus wäre, wenn alles, was ich mir in meinem Leben aufgebaut habe, in sich zusammenstürzen würde? Was alle, die das mit mir aufgebaut haben, alle denen ich etwas bedeute, dann fühlen würden? Wenn alles, an was ich mich erinnern kann, vom ersten Mal Fahrrad fahren bis hin zu dem Weg auf die Klippe hinauf, einfach zerplatzen würde? Diese Gedanken ließen mich erschaudern, doch es gab kein Zurück mehr, ich konnte nicht fliegen. 9 … 8 … 7 … Der Aufprall kam immer näher, ich schloss die Augen, doch nur, um sie sofort wieder zu öffnen. Ich war voller Angst erfüllt, dachte nur mehr ans Sterben, dass ich nachher noch leben würde, war für mich ausgeschlossen. 6 … 5 … Ich betete. Ich dachte an meine Familie, meine Eltern, meine Freunde. 4 … 3 … Instinktiv streckte ich die Hände vor meinen Kopf. Ich dachte an das, was nach dem Tod war. Leben? Nichts? 2 … Wie in Zeitlupe kam ich zum Ende, meinem Ende, dem Ende meiner Welt. Dem Ende, das ich jetzt ungewollt bekomme. Nur noch ein Meter … Ich schloss mit meinem Leben ab.
Alles spritzte. Ich machte die Augen auf, alles war blau, und oben war ein Licht. Lebte ich noch? Das Licht rückte näher und ich tauchte auf! Glücklich konnte ich sagen: Ich war von einer Klippe gesprungen.
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