Noch ein allerletztes Mal
Sie sagen uns, dass wir es brauchen. Wir brauchen es, denn wenn wir es nicht haben, haben wir nicht genug. Wir brauchen, was sie haben, und wollen haben, was sie brauchen, weil es das ist, was sie von uns wollen – oder zumindest denken wir das. Denn wir wollen ja schließlich genug sein. Und sie sagen uns, dass wir das nicht sind.
Weil es sowieso nur ein Kampf ist gegen die Zeit, gegen die Zeit und die Stimmen und uns selbst. Das alles hier ist ein einziger Kampf gegen uns selbst.
Weil diese Stimmen uns einfach nicht loslassen, weil sie uns sagen, dass wir es wie sie tun und eine Maske aufsetzen müssen. Um auszusehen wie sie, denn nur dann sind wir genug. Weil sie genug sind, und das wollen wir schließlich auch sein.
Und wir laufen und laufen und wissen nicht, wohin, wir laufen diesen ewig scheinenden Weg entlang und laufen mit dem Strom, versuchen, schneller als die anderen zu sein, schneller als die Zeit. Versuchen, sie einzuholen, doch auf dem Weg zu diesem unbekannten Ort wollen wir anhalten. Anhalten und atmen und die kalte Nachtluft fühlen, die durch unsere Lungen strömt, wollen die Lichter inmitten der Dunkelheit sehen und einfach das Gefühl haben, genug zu sein.
Und wenn wir irgendwann einmal alt sind, werden wir uns wünschen, noch ein wenig länger angehalten zu haben. Noch schneller gelaufen zu sein und noch tiefer eingeatmet, noch einmal öfter das Leben in uns gespürt zu haben.
Denn wir haben so oft vergessen, anzuhalten, weil die Stimmen und die Zeit uns verfolgt haben, weil sie an uns vorbeigezogen ist und wir ihr nachlaufen wollten, doch sie war schneller weg, als wir laufen konnten. Weil wir auf der Suche nach uns selbst viel zu selten stehengeblieben sind und uns umgesehen haben, denn hätten wir das getan, wären wir viel früher darauf gekommen, dass wir nichts mehr brauchen.
Wir wollten mehr und hatten nie genug, haben nach uns selbst gesucht doch uns nie gefunden, haben nach diesem einen Ort gesucht, an dem wir sein können, wer wir wirklich sind, an dem wir uns genug fühlen. Doch erst im Nachhinein ist uns bewusst geworden, dass wir diesen Ort längst gefunden haben. Dass wir längst genug sind.
Und eines Tages werden wir alt sein, und dann werden wir uns wünschen, wir hätten für einen Moment die Stimmen in unserem Kopf ignoriert und das Leben in uns gefühlt, das uns gesagt hat, dass wir genug sind. Das Leben, das die ganze Zeit über in uns gesteckt hat.
Denn eines Tages, wenn die Luft um uns herum dünn wird und es scheint, als würde sie uns erdrücken, werden wir uns wünschen, noch einmal an diesen Ort zurückzukehren. Noch einmal die kalte Nachtluft in uns zu spüren und die Millionen Lichter zu sehen, noch ein allerletztes Mal. Noch ein allerletztes Mal das Gefühl zu haben, genug zu sein. So, wie wir es nur an diesem Ort getan haben.
Und erst, wenn wir eines Tages alt sind, wird uns klar sein, dass das Leben nicht ewig dauert. Dass das Leben nicht ewig dauert, aber lange genug. Wenn einem das bewusst ist.
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