Normal denken
Ich denke oft wehmütig zurück an die Zeiten, als noch alles normal war. Lange her. Oder, auch wenn es nicht normal war, so dachte ich wenigstens, dass es normal wäre. So, wie es war. Ich konnte normal denken, ich meine leben, ohne ständig den Schrecken vor Augen zu haben. Ich wünschte, ich könnte das heute noch. Immer muss ich dabei sein. Immer muss ich mitfühlen, mitfeiern, mitweinen, immerzu in den Strom des Unaufhaltbaren und Unvermeidlichen gesogen. Wenn ich doch nur normal denken könnte.
Ich erinnere mich an einen besonders aufreibenden Tag letztens, der gerade zu Ende gegangen war, als ich das Gebäude verließ. Die letzten Sonnenstrahlen lungerten gerade noch so sichtbar in der Ferne, aber zwischen den Häusern war es schon recht dunkel geworden. Das beruhigte mich etwas. In der Dunkelheit scheinen Dinge normal. Sie umschloss mich wie eine warme Decke, trotz der schneidenden Brise, die wehte. Ich blieb an der Ampel stehen und sog die saubere Luft ein, als befreie sie mich von meinem Frust.
“Hallo. ”, hörte ich eine Stimme hinter mir.
“Wer–”
“Ich bins. ”
“Oh, ja klar. Du klangst so anders durch den Schal. ”
“Hat alles geklappt heute? ”, fragte Carmen.
“Als ob. ”
Ich hoffte auf die transzendentale Bedeutung der Pause.
“Manchmal frage ich mich”, begann sie, “wozu alles? ”
“Für uns”, antwortete ich. “Alles für uns. ”
Sie sagte nichts.
Ich verstand.
Sie brach die Stille: “Es ist nicht fair. ”
“Was ist das schon”, sagte ich. “Damit wir hier sein können, ist nichts fair gelaufen. Denk nicht darüber nach. Wenn du alles hinterfragst, wirst du verrückt. ”
Ich genoss die Dunkelheit. Wenn ich im Winter nach Hause komme und alles schon pechschwarz ist, dann fühle ich mich angekommen, noch bevor ich los bin. Die Dunkelheit verbindet, noch mehr so die warmen Lichter, die sie durchschneiden. Jemand, der dort kocht. Und da oben jemand, die liest. Sie alle geben mir Hoffnung.
Und trotzdem, trotzdem, trotzdem kann ich nicht, ich kann es nicht.
Normal denken.
Vergessen.
“Weißt du”, sagte Carmen.
“Nein. ”
“Ich gebe nicht auf. Niemals. Und ich will nicht, dass du es tust. Ich weiß, die Leute hier und die Luft und sonst was geben dir Kraft, sagst du. Aber ich sehe, dir tut es nicht gut, hier zu sein. ”
Ihre kühlen Worte brachten mich zum Denken. Wie könnte ich aber weg. Und doch hat sie Recht, ich halte es nicht mehr aus, noch mehr zu tun, noch mehr zu wissen und mich doch nicht zu bewegen. Weil sich sonst niemand bewegt!
Was nützt es, die Antwort zu kennen, wenn man sie nicht anwenden kann.
Was nützt es, die Antwort zu haben, wenn sie einem alles nimmt.
Inzwischen liege ich vor Verzweiflung danieder. Wörtlich. Hinter mir ein Banner, das im Wind flattert. Vor mir Männer und Frauen in Uniform. Ihre Blicke reißen mich auf, schaben meine Haut ab, bis ich im eigenen Blut stöhne, während sie meine Gelenke, eins nach dem anderen, zerlegen. Das ist es, das Ende. Bald wird es endlich wieder dunkel. Normal? Nie. Fast bewusstlos singe ich:
People gonna rise like the water . . .
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