Nur ein Schritt
Ich konnte die Gestalt auf der anderen Seite der Brücke nicht verstehen.
Das Rauschen in meinen Ohren und das pochende Herz verhinderten es.
Es war als riefe er immer wieder meinen Namen, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden zu ihm zu gelangen. Meine Eltern hatten mich immer von diesem Bereich gewarnt. Es war unberührtes Land, kein bekannter Mensch war jemals dort hingegangen, er und ich, wir wären die Ersten.
Ich wusste nicht mehr, wie wir auf diese Idee gekommen waren. Es war ab dem Zeitpunkt beschlossen, an dem ich ihm erzählt hatte, dass ich jeden Abend aus dem Fenster starrte und versuchte irgendetwas zu erkennen. Die Neugier hatte uns schließlich hierhergeführt.
Wieso sich jede Person davor fürchtete auch nur einen Schritt auf den hölzernen Übergang zu machen, hatte uns verrückt gemacht.
Und hier verharrte ich nun, starrte zu Julian hinüber, welcher in dem dunklen Nebel stand.
Es war seltsam, dass ich hier in der funkelnden Sonne war und nur wenige Meter entfernt befand sich der Junge inmitten eines dunklen Landes, welches ich nicht zu betreten wagte, obwohl ich uns erst an diesen Ort gebracht hatte.
Fluchend umklammerte ich die Seile auf der Seite und dachte an seinen seit Wochen gebrochenen Arm und die paar Kilo mehr, mit denen er es trotzdem geschafft hatte.
Ängstlich setzte ich einen Fuß auf das erste Holzbrett und biss mir auf die Unterlippe, während ich langsam weiterging.
Je mehr ich mich von der Welt, die ich kannte, entfernte, desto düsterer wurde es. Ein unbekannter Geruch stieg mir in die Nase.
Zitternd schloss ich die Augen und setzte einen Fuß vor den anderen, bis ich auf einmal eine Hand auf meinem Ellbogen spürte und erschrocken aufsah.
Er lächelte.
„Da bist du ja endlich. Das musst du dir ansehen!“
Julian klang gar nicht ängstlich, obwohl er sich nun schon seit mehreren Minuten alleine hier befand.
Ich nickte bloß, war viel zu geschockt von der Tatsache, dass ich es als einer der ersten Menschen getan hatte…ich war über die Grenze in das geheimnisvolle Land getreten.
Tief einatmend folgte ich Julian, welcher fast schon freudig vorlief.
Nur mit Mühe konnte ich ihn schließlich einholen, den Blick gesenkt, aus Angst was mich erwartete.
„Schau auf“, flüsterte er leise und sanft und ich tat was er sagte, riss meine Augen auf.
Der Eindruck, all die Geschichten waren nicht wahr. Das war ein Reich voller Grün.
Ich konnte kein einziges Lebewesen ausmachen, außer die Pflanzen, die sich um die verfallenen Häuser schlängelten und auf denen Blumen blühten.
„Wir haben das Königreich der Natur entdeckt, Soph“, strahlte Julian und drehte sich einmal um sich selbst, während er die Umgebung in sich aufnahm.
„Aber die Häuser…“, warf ich ein und musste den Satz nicht beenden, er wusste was ich meinte.
Sie waren vollkommen zerstört und verwachsen, die ehemaligen Bewohner waren bestimmt schon lange weg.
„Meinst du sie mussten vor jemandem oder etwas fliehen?“, fragte ich mit bleierner Stimme, aber er musste nicht antworten, das Geräusch welches hinter uns erklang, war Antwort genug.
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