Obdachlos
„Hi, hast du etwas bekommen?“, fragt mein Freund Erni. Wir sind obdachlos und leben mit Sue in unserem Unterschlupf. Ich lege drei müde Euros in die Bandenkasse. Erni pflegt zu sagen, dass man unsichtbar ist, bis man spricht. Ich habe ihm schon oft gesagt, dass das kein Sprichwort ist, aber mein Freund behauptet, solange sich ein Spruch bewahrheitet stimmt er. Und das hat sich heute wieder einmal bewiesen, denn Erni hat 25 Euro bekommen und ich eben nur drei. Ohne ihn und Sue wäre ich schon verhungert. Mein Freund meint: „Wenn du das nicht bald auf die Reihe bekommst, müssen wir anfangen zu stehlen!“ Ich schrecke hoch. Wir hatten abgemacht, dass wir das niemals tun würden. Doch bald wird es keinen anderen Ausweg mehr geben. Da betritt Sue den Raum. „Hallo Jungs, ich habe heute ganze 18 Euro bekommen!“ Wie immer bemerkt sie die bedrückte Stimmung nicht. Ich bin ihr deshalb aber dankbar, denn ohne sie würden wir in Übellaunigkeit versinken. Erni erklärt Sue die Lage. „Ich habe von Anfang an gesagt, dass Stehlen besser ist als Betteln.“, ruft sie übermütig. Ich bin noch immer dagegen, also fasse ich mir ein Herz und werfe ein: „Leute, gibt es keine andere Lösung?“ Sue meint, die einzige andere Möglichkeit ist, dass ich mehr Geld einbringe. Da hat Erni eine Idee. Wenn es mir morgen gelingen sollte, über zehn Euro zu verdienen, würden sie vom Diebstahl absehen.
Als ich am nächsten Abend nach Hause komme, drücke ich Erni 4, 50 Euro in die Hand. Man ist unsichtbar, bis man spricht. Erni hat so recht. Sue und er planen den Diebstahl mit vollem Eifer. Ich aber bin enttäuscht von mir selbst. Warum kann meine dumme Zunge nur kein Wort zu anderen Leuten sagen? Am nächsten Morgen sind wir im Supermarkt. Sue ist sehr hibbelig und ich mache mir immer noch Vorwürfe. Wieso habe ich mich am Vortag nicht zusammengerissen? Jetzt greift sie sich die teuersten Pralinen und steckt sie in die Tasche. Ich beiße mir auf die Lippe. Nein, das ist ganz falsch! Ich bitte, mir noch eine Chance zu geben. Sue bleibt stur und erwidert, ich hatte gestern eine. Doch ich rede solange auf die beiden ein, bis Erni nachgibt. Ich soll jetzt von jemandem fünf Euro bekommen. Ich schlucke und nicke zögernd. Mein Herz klopft mir bis zum Hals und Schweiß rinnt meine Stirn hinab. Ich spüre meinen Puls steigen. Ich räuspere mich. Eine Frau blickt mich an. Sie erwartet etwas von mir. Ich muss etwas sagen. Jetzt! Ich setze zu einer Frage an, doch mein Mund wird ganz trocken und ich senke den Blick. Ich schaffe es nicht. Doch dann lächelt sie mich an. Das hat noch nie jemand Fremdes getan! Da reiße ich mich zusammen und sage: „Guten Tag, ich wollte, ähm, also es ist so, ich habe kein Geld aber großen Hunger und kann nichts kaufen. Könnten Sie mir bitte etwas Geld geben?“ Geschafft! Ich habe mit jemandem gesprochen! Doch was wird die Frau tun? Lächelnd zieht sie einen 5-Euro Schein aus der Tasche und überreicht ihn mir. Ich flitze strahlend zu meinen Freunden zurück, die mich erstaunt anblicken.
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