Oft genügt ein Löffel Zucker und was bitter ist, wird süß
Ich atmete tief durch. Ein aus, ein aus. Eigentlich war ich gar nicht so ängstlich. Im Grunde gesagt war ich sogar richtig mutig, kein Baum war mir zu hoch, kein Abenteuer zu gefährlich. Doch jedes Mal, wenn ich von der Schule nach Hause ging, meldete sich wieder das Kribbeln in meiner Magengrube und meine Knie wurden weich. Im selben Moment sah ich ihn auch schon- meinen Nachbarn. Sein eiserner, kalter Blick ließ mir die Haare auf meinem Körper aufstellen und das Blut in meinen Adern gefrieren.
Dabei war er eigentlich nur ein alter, sturer, verbitterter Mann. Voller Unmut und Zorn. Meine Mutter war der Meinung, dass sein Unmut in Wahrheit nur das Produkt von Enttäuschung und Demütigung war. Doch ich denke, dass er von Grund auf ein unfreundlicher Mensch war, der keine Freude verdient hat. Sogar seine Familie wandte sich von ihm ab und seine erwachsenen Kinder kamen alle 7 einmal Monate vorbei.
Die Weihnachtszeit stand an und da der Mann immer noch keinen Besuch von seiner Familie bekommen hatte, schickte mich meine Mutter mit ein paar Geschenken zu ihm hinüber. Als ich den ersten Schritt aus der Haustür machte, spürte ich schon die Kälte. Sie schnitt mir in die Haut. Schnürte mir die Kehle ab. Nahm mir die Luft zum Atmen. Ich schauderte, nicht wissend vor Kälte oder Angst. Schnee knirschte unter meinen Füßen und zögernd klopfte ich an der Tür. Quietschend öffnete sie sich. Verängstigt hielt ich dem Mann den Korb unter die Nase und setzte schon zum Heimweg an. Aber stattdessen bat er mich mit einer schwungvollen Handbewegung herein. Unsicher folgte ich ihm in die Stube und sofort stieg mir der wunderbare Duft von frisch gebackenen Keksen in die Nase. Ich hörte das Pfeifen eines Wasserkochers und der Mann verschwand für einen kurzen Moment, um gleich darauf mit einer Kanne Tee wieder zu kommen. Er stellte diese auf den Tisch und ich ließ mich auf einen der Stühle fallen. Mit einem Löffel fuhr er 4 Mal großzügig in eine Zuckerdose, um damit seinen Tee zu süßen. Außerdem stellte er einen großen Teller voller Keksen in die Mitte. Eingeschüchtert nahm ich mir einen Zimtstern und stellte fest, dass auch der Keks extrem süß war.
Die Situation war schon ziemlich merkwürdig. Keiner von uns beiden sprach viel, verkrampft suchte ich irgendwelche Gesprächsthemen, um die unangenehme Stille zu füllen. Mein Blick wanderte suchend durch den Raum, bis ich etwas am Oberarm des Mannes entdeckte. Mit einer schwarzen Linie zog sich ein Tattoo quer über den Bizeps des Mannes. „Wofür steht dieses Zeichen?“, fragte ich neugierig. „Das ist ein Triquetra. Ein Symbol, das für Familie steht. Und das sind die Anfangsbuchstaben der Namen meiner Kinder.“
Diese Antwort kam unerwartet. Und obwohl ich mich anfangs doch noch so sehr vor dem Mann gefürchtet hatte, winkte ich ihm jetzt jedes Mal freundlich, wenn ich an seinem Haus vorbei ging. Und meistens winkte er auch zurück. Und manchmal lächelte er sogar. Ein bisschen.
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