Ohne Form
Und dann wachtest du auf.
Du warst verwirrt. Du wusstest nicht, wo du warst, oder wie du hierher gekommen warst. Du sahst dich um. Du warst in einem Zugabteil mit vier Sitzen, neben einem Fenster sitzend. Doch deine Umgebung sah ungewöhnlich aus. Alles war monochrom. Als hätten deine Augen vergessen, wie sich Farben anfühlten. Du versuchtest, sie zu schließen. Die Weiß- und Grautöne änderten sich, sie wurden negativ, umgekehrt. Du machtest die Augen wieder auf. Du sahst aus dem Fenster. Du hattest erhofft, grüne Wiesen auf sanften Hügeln zu sehen, oder ein Tal, tief unter dir gelegen, mit einem Fluss, der sich wie eine Schlange durch die Landschaft wandte. Stattdessen erblicktest du eine weiße, endlose Leere, ohne Horizont in Sicht, ein Boden oder Himmel waren nicht zu erkennen. Du warst etwas enttäuscht und verängstigt, also entschlosst du dich, das Fenster zu öffnen. Du lehntest dich vorsichtig aus dem Fenster, und sahst den Zug von der Seite an, der sich in einer geraden Linie in Richtung Unendlichkeit zu bewegen schien. Dutzende Wägen mit hunderten Fenstern reihten sich ohne erkennbares Ende nebeneinander auf. Auch in die andere Richtung schien es kein Ende zu nehmen. Der Zug fuhr auf keinen erkennbaren Schienen weiter nach vorne. Oder fuhr er nach hinten? Wo war eigentlich vorne und hinten? Fuhr er überhaupt, oder stand er still? Es war nicht zu erkennen. Du setztest dich wieder hin und sahst an dir herab. Es war, als hättest auch du jegliche Farbe verloren. Als hättest du deine Form verloren, du konntest nicht erkennen, wo du aufhörtest, und wo der Sitz anfing. Doch du warst dir sicher, dass du hier warst. Zumindest wolltest du es glauben.
Du warst gerade in Gedanken versunken, als plötzlich neben dir eine dunkle, hochgewachsene Gestalt erschien. Auch sie war form- und farblos, kaum von ihrer Umgebung zu unterscheiden. Doch sie war da. Dann hörtest du eine Stimme, sie war nicht tief und nicht hoch, du konntest ihr keine Richtung oder Gefühle zuordnen. „Guten Tag“, sagte die Stimme. Du erschrakst. Du wolltest antworten, doch du konntest es nicht. Es war, als wären deine Sinne in einer formlosen Gestalt gefangen. Du wolltest fragen, wo du dich hier befandst, oder wer die Gestalt war. Ohne deine Frage zu hören, antwortete die Stimme. „Du bist in einem Zug. Ich bin der Schaffner“, sagte sie monoton. „Dieser Zug bringt dich zum nächsten Schritt.“ Du gerietst in Panik. Du standest auf und gingst an der Gestalt vorbei und ranntest bis ans Ende des Wagen. Doch du warst wieder am Anfang des Wagens. Die Gestalt neben deinem Abteil sah zu dir und sprach: „Du kannst nicht entkommen. Ich bin unvermeidbar.“ Du ranntest weiter, an der Gestalt vorbei und nochmal und nochmal und noch viele Male, bis du dich erschöpft und frustriert in deinen Sitz fallen ließt. „Ich warnte dich“, sprach die Stimme. Du lehntest dich entmutigt gegen das Fenster, da öffnete es sich und du stürztest in die Leere. Alles wurde weiß. Du schlosst die Augen.
Und dann wachtest du auf.
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