Ohne Tränen
Es war einmal ein Mädchen, das hatte Angst.
Es war einmal ein Mädchen, das konnte nachts nicht schlafen.
Aber das war egal. Es war nur eine unter vielen. Bloß ein unbedeutendes Sandkorn am Strand.
„Stell dich nicht so an.“, hatte es immer geheißen, wenn es traurig war. „Vielen anderen geht es noch viel schlechter.“‘
Deshalb weinte das Mädchen nie. Es war nicht traurig. Wenn es in die Schule ging, meldete es sich. Beim Mittagessen erzählte es von seinem Vormittag. Beim Turnen trainierte es für den Wettkampf. Abends lernte es für die Schule und spielte UNO mit seinen Eltern.
Nachts lag das Mädchen wach. Es starrte an die Decke und dachte nach. Über sich. Über das Leben. Den Tod.
Aber es weinte nie. Nur Schwache waren traurig. Das Mädchen war stark.
Jeden Morgen war es so schwer aufzustehen. Was würde der Tag denn schon bringen. Das Mädchen wollte im Bett bleiben. Es war so müde. Müde und erschöpft. Aber nicht traurig.
Doch wenn es auch nicht glücklich war, was blieb dann noch? Leere.
Es spürte nichts, wenn alle anderen lachten. Es blieb still, wenn alle von ihren Erlebnissen erzählten. Das Mädchen fühlte nichts. Denn es war nicht traurig.
„Warum isst du denn nichts mehr?“, wollten alle wissen. „Warum lachst du denn nicht mehr?“ Doch das Mädchen zuckte nur mit den Schultern und blieb still.
Zu Hause ging das Mädchen ins Badezimmer. Es wollte wieder etwas fühlen. Da lag die kleine, spitze Nagelschere. Das Mädchen hatte Angst. Aber Angst war wenigstens ein Gefühl.
Als es sich langsam in den Arm schnitt, spürte es ein scharfes Brennen. Es tat weh. Das Mädchen spürte den Schmerz. Aber es weinte nicht.
Am nächsten Tag zog das Mädchen einen langen Pullover an, um die Schnitte zu verdecken. Es sehnte sich nach dem Gefühl des Schmerzes, nach irgendeinem Gefühl.
Es redete kaum noch. Wofür auch. Es brachte nichts. Es war egal.
Nach der Schule ritzte sich das Mädchen erneut. Doch es hatte vergessen abzusperren. Seine Mutter kam ins Zimmer. Sie schrie das Mädchen an und nahm ihm die Schere weg. Was denn verdammt noch mal los sei, wollte sie wissen. Was das denn sollte. Doch das Mädchen schwieg. Es war egal.
Das Mädchen legte sich in sein Bett. Es dachte über sein Leben nach. Was solle denn noch kommen. Tag für Tag das Gleiche. Unbedeutend. Emotionslos.
Kein Ende in Sicht. Jeder Tag eine Qual.
Da kam seine Mutter ins Zimmer. Sie legte eine Infobroschüre über Therapien neben das Mädchen. Auf der obersten war ein kleines Kind abgebildet. Das Mädchen dachte an sich selbst als Kind. Wie glücklich es gewesen war. Es vermisste das Glück. Eine kleine Träne trat aus seinem Augenwinkel. Dann noch eine. Und noch eine. Sie rollten über seine Wange und tropften auf das Bett. Das Mädchen weinte. Und das war okay. Es durfte weinen. Es durfte fühlen. Und das würde nie ein Ende nehmen.
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