Oma ist seltsam
Endlich. Endlich wieder nur wir. Oma und ich. Die Hortensienblüten, stolze Empfangsdamen im Vorgarten, warten auf Bewunderung. Kein Braunrand. Keine welkenden Köpfe. „Hortensien brauchen Aufmerksamkeit, sonst sind sie eingeschnappt und welken“ Ich nicke ihnen kurz zu. Sie wirken zufrieden.
Das gelbe Gartentor hängt schief im Scharnier und quietscht ein kleines Willkommen.
In eine Welt der biegsamen Regeln. Schokolade zum Frühstück, ein Kasten voller Brettspiele und das Ticken der Zeiger verstummt.
Omas Umarmung ist warm und riecht vertraut nach Vanille, Lavendel und ein bisschen Blumenerde.
Eine dumpfe Melodie durchbricht die nächtliche Stille.
„Oma?“ Nichts ist wirklich falsch. Aber eben auch nicht richtig.
Die Küchenuhr zeigt 2 Uhr 30. Oma tanzt Cha-Cha-Cha.
Meine Brust wird eng. Wie in einem absurden Traum tänzelt meine Oma in ihrem geblümten Nachthemd durch die Küche.
„Oma ist seltsam, Mama, bitte komm!“
Es ist schwer zu verstehen, was genau in Oma vorgeht.
Demenz. Gedächtnisverlust. Verwirrung.
Der sterile, weiße Raum, in dem ich sitze, spiegelt die vollkommene Leere in meinem Kopf wider. Meine Oma wird verschwinden. Nicht von einem Tag auf den anderen, s c h l e i c h e n d, wie ihre Hortensienblüten im Herbst. So langsam, dass man es kaum merkt, doch zu schnell, um sie festhalten zu können.
Stück für Stück wird mir die Demenz immer mehr von ihr entreißen. Mich auf den Boden werfen und schreien sollte ich, wie ein bockiges Kind. Die Broschüren mit den glücklichen, alten Leuten zerreißen und den Wasserspender umkippen. Das wäre eine angemessene Reaktion. Doch ich sitze nur stumm im Wartezimmer. Ich muss zusehen, wie Omas Erinnerungen langsam verblassen. Wie Worte auf einem alten Buchrücken.
Der Nebel zieht auf, wenn auch langsam. An manchen Tagen umhüllt er bloß Kleinigkeiten, an anderen weiß sie nicht mehr, wer ich bin. Und jedes Mal bleibt weniger von ihr übrig.
Manchmal stell ich mir vor, wo die echte Oma ist, wenn die Demenz das Steuer übernimmt. Macht sie ein Schläfchen oder beobachtet sie alles durch den trüben Schleier, der ihre Gedanken umhüllt? Ich weiß es nicht. Doch ich weiß, dass meine Oma noch da ist. Irgendwo da drinnen. Auch wenn ich meine Oma manchmal nicht in dieser Fremden sehe, spüre ich, sie ist bei mir. Und wenn Oma jetzt tanzt, dann habe ich keine Angst mehr. Wir drehen uns zur Musik, als wäre Roy Black höchstpersönlich mit uns in der Küche.
Oma hat es nicht immer so einfach. Vergessen wühlt auf. Es kommt wie ein Wirbelsturm und lässt sie im Gedankenchaos zurück. Also halte ich ihre sommersprossige Hand. „Alles gut, Oma, ich weiß, dass du da bist!“ Ich umarme sie, rieche den vertrauten Lavendel-Vanille Geruch mit ein bisschen Blumenerde. Jetzt erzähle ich und sie hört zu. Sie lächelt mich an. Sie weiß, dass ich weiß, dass sie da ist. Nur wir. Oma und ich. Denn auch wenn Omas Erinnerungen im schnellen Takt der Krankheit trüber werden. Die Wärme bleibt. Immer.
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