Opa, was ist Mut?
„Opa, was ist Mut?“, möchte der kleine Junge mit den roten Wangen wissen und blickt zu seinem alten Großvater auf.
Bedacht schiebt der grauhaarige Mann die Lesebrille auf den Nasenrücken und betrachtet seinen neugierigen Enkel mit einem verschmitzten Grinsen. „Was Mut ist, möchtest du wissen?“, echot er die Frage des Jungen, der eifrig nickt. „Ich habe schon von so vielen Geschichten gehört, in denen es um Ritter geht, die Prinzessinnen retten, Helden, die einen gesamte Planeten vor Katastrophen bewahren, oder von Abenteurern, die Goldschätze entdecken. Doch wenn du mich fragst, ist diese Art von Mut nicht die einzige.“
Mit glitzerndem Blick mustert der kleine Junge den alten Großvater. Naseweis versucht er auf den sperrigen Ohrensessel zu klettern, um sich auf den väterlichen Schoß des alten Mannes zu setzten. „Welche Art von Mut gibt es denn noch, Opa?“
Liebevoll legt er seine schrumpelige Hand an das Kinn seines Enkels, um ihm besser in die unschuldigen Augen blicken zu können. „Mein Junge, das werde ich dir kein zweites Mal erzählen. Darum höre gut zu!“
Mit staunender Miene nickt der Junge erneut und lauscht aufmerksam den Worten des Großvaters. „Du musst wissen, das Leben ist nicht immer einfach. Oft stellt es uns große Brocken in den Weg, die uns stoppen und zum Stolpern bringen. Kriege, der Verlust eines geliebten Menschen oder eine unerwartete schlechte Nachricht. Solche Momente möchte man am liebsten vergessen, da sie immer fürchterlich schmerzhaft sind. Sobald man einen dieser Brocken vor sich liegen sieht, weiß man, dass das Herz bald brechen wird. In solchen Zeiten kommt dann der Mut ins Spiel. Es braucht unfassbar viel davon, um sich zu überwinden und einen neuen Weg einzuschlagen, der an dem Brocken vorbeigeht. Oft verliert man sich dabei in einer unendlichen See aus Trauer oder einem finsteren Wald, der einen droht zu verschlingen. Aber man findet immer wieder zurück auf seinen ursprünglichen Weg, der einem sicher ans Ziel führt. Mut kann aber auch bedeuten, dass man ehrlich ist. Seine eigenen Fehler einzugestehen benötigt noch ein bisschen mehr Mut als einen neuen Weg einzuschlagen, denn sobald die anderen Menschen in dieser Welt erkennen, dass man nicht perfekt ist, ist man sogleich schwächer als alle anderen. Den Mut aufzubringen all die wertenden Stimmen auszublenden und dennoch erhobenen Hauptes durch die Welt zu spazieren, ist eine Prüfung, die vermutlich der tapferste Abenteurer nicht immer übersteht. Mut ist so vieles. Als deine Mutter…“
Die Augen des Großvaters werden wässrig und er wendet seinen Blick ab. Da nimmt der kleine Junge die große Hand des Großvaters. „Ich denke, ich weiß, was du sagen möchtest. Ich war auch schon sehr mutig. Als Mama gestorben ist, habe ich mich getraut, ihr ein letztes Mal zu sagen, dass ich sie liebhabe, obwohl ich mich davor gefürchtet habe. Ist das Mut?“
Eine stumme Träne kullert dem alten Mann die Wange hinab, als er kaum merklich nickt. „Ja, mein Junge, du hast Recht! Das ist Mut!“
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