Orpheus und die Unendlichkeit
Manche Augenblicke sind ewig.
Sanfte Stimmen tragen eine Geschichte in die Welt, die älter ist als die Sprache, die sie sprechen. Zwei Namen haben die Zeit überdauert, jeden Augenblick, seit sie gefunden wurden bis zu der Erzählung, die sie immer und immer wieder an den Anfang bringt.
Eurydike nennen wir die Frau, die durch die Wälder lief und tanzte und die Welt mit Freude erfüllte. Orpheus nennen wir den Mann, der sein Herz an sie gebunden hatte und alles um sich herum mit dem längst vergangenen Klang seiner Lyra formte.
Die Stimmen, mit denen sie einander ihre Liebe zuflüsterten, sind vor Jahrtausenden verhallt und der Staub unter ihren Füßen zu Neuem zerfallen.
Manche Augenblicke sind ewig, nicht weil sie nicht vergehen. Als Eurydike den Biss spürte und das Gift sie in die Unterwelt zog, war es nur ein Moment, Gesang und Schweigen.
Orpheus fand sie und seine Stimme zerriss die Welt, bis er aus den Scherben die Dunkelheit zusammensetzte, die ihn zu ihr zurückführte. Eine Bitte auf Knien, eine Bedingung. Sieh nicht zurück.
Wir wissen, wie es endet.
Es ist ein trauriges Lied und wir singen es wieder und wieder.
Orpheus setzte einen Schritt vor den anderen, ein Augenblick, der in den nächsten fließt.
Nicht umdrehen.
Ist sie da?
Noch ein Schritt. Augenblicke können sich in die Unendlichkeit dehnen.
Warum kann ich ihre Schritte nicht hören?
Der Weg führte bergauf.
Sag etwas, damit ich weiß, dass du da bist.
War das Lied der Preis, den er gezahlt hatte, oder die Zweifel, die ihn zurück zogen?
Orpheus, Orpheus, sieh nach vorne.
Wir wissen, wie es endet. Wir sagen, an seiner Stelle hätten wir noch einen Augenblick gewartet. Wir hätten nicht zurückgeblickt, die Bedingung nicht gebrochen, den Schritt in die richtige Richtung getan.
Aber Orpheus wusste es nicht, kannte das Ende nicht, machte den ersten Fehler, der tausendmal erzählt wird. Der Augenblick, der sich in die Jahrhunderte einbrennt, ist sein Verhängnis. So sehr zu lieben, zu fürchten, verzehrt zu sein.
Er blickte zurück.
Sie sah ihn an, und der Moment wurde Unendlichkeit. War es ein Fehler oder ein Liebesbeweis? Gleichweg, sie trat zurück in die Schatten. Der Augenblick zerrann zwischen seinen Fingern.
Wir nennen es Tragödie und erzählen sie dennoch wieder und wieder. Wir wissen, wie es endet und flehen ihn dennoch an, sich nicht umzudrehen.
Aber um nicht zurückzublicken, hätte er sie weniger lieben müssen. Um weiterzugehen, hätte er sie loslassen müssen. Aber er war Orpheus, und sie war Eurydike, und er konnte den letzten Schritt nicht ohne sie tun. Konnte es niemals und wird es nie können.
Manche Augenblicke sind ewig, weil wir sie wieder und wieder hervorholen. Wir lassen Orpheus singen und Eurydike ihm folgen. Er dreht sich jedes Mal um. Wir fangen erneut an, über Jahrhunderte und unzählige Sprachen, ihre Geschichte wird in unvergängliche Tinte gebunden. Unumstößlich, unvermeidbar.
Er blickt zurück. Und Eurydike weiß, dass sie geliebt wird.
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