Orphicvon Emelie Rüger
Orphic: Adj. Mystisch, Rätselhaft
i.
"Haben wir uns verlaufen? " Mary klang zum ersten Mal ehrlich besorgt. Marlene konnte es ihr nicht übel nehmen- sie rannten jetzt schon stundenlang durch diesen vermaledeiten Wald und suchten diese berühmte Lichtung von der Timothy gesprochen hatte.
Jonathan starrte auf den Bildschirm seines Smartphones. "Ich. . . ich hab keine Ahnung. Google Maps spinnt, und Tims Wegbeschreibung macht keinen verdammten Sinn. " Er drehte sich einmal um die eigene Achse. "Und ich hab leider auch keine Idee wie wir zurückkommen sollen. " Marlene seufzte, aber Mary gab sich nicht so leicht geschlagen. "Was meinst du mit 'Google Maps spinnt'? ! " Sie stemmte die Hände in die Hüften. "Es kann nicht 'spinnen'! Das funktioniert doch mit GPS oder sowas. "
Jonathan rollte mit den Augen. "Schau doch. " Er hob sein Handy hoch, und zeigte die geöffnete App. Statt einer Karte, war der Bildschirm einfach nur weiß. "Ich sag doch 's funktioniert nicht. "
"Und wie kommen wir jetzt bitte zurück zur Jugendherberge? Verdammt wir sprechen doch nicht einmal fließend Deutsch! "
"Wie ich schon sagte, " er war inzwischen sichtlich genervt, was nie ein gutes Zeichen war. "Ich hab keine Ahnung. "
"Leute, beruhigt euch. " Das war Lily, die in ihrem Rucksack kramte und einen Kompass hervor zog. "Unsere Herberge liegt doch südlich oder? "
"Kann sein. " Murmelte Marlene. Erdkunde war noch nie ihre stärke gewesen.
Lily unterdrückte ein grinsen, und wischte sich über die nasse Stirn. Für November war es hier ganz schön warm. "Das heißt wir müssen einfach nur weiter nach Süden laufen, und werden irgendwann schon wieder zurückfinden. "
ii.
"Lauf! " Schrie Mary und tat genau das. Marlene versuchte ihr zu folgen, doch stolperte über eine Wurzel. Lily und Jonathan rissen sie nach oben, und fingen an zu sprinten. Etwas riss an ihrer Schulter, aber sie blickte nicht zurück, sondern sprang über einen Stein und rannte dann selbst durch das Unterholz.
Schneller und schneller, bis das regelmäßige knacken unter ihren Schuhen zu ihrem Herzschlag passte, den Schmerz in ihrer, langsam taub werdenden, Schulter ignorierend. Was auch immer hinter ihnen her war, stieß ein wütendes grunzen aus und sorgte dafür das noch mehr Adrenalin in ihre Blutbahn gepumpt wurde. Ihre Seite stach, und sie war außer Atem, doch sie zwang sich weiter zu rennen. Ihr Herz pocht wie wild in ihrer Brust, und sie ist sich sicher das man es noch zuhause in Maine hören kann.
iii.
"Wir werden alle sterben. "
Der Gedanke hing unausgesprochen in der Luft. Keiner von ihnen wagte es zu sprechen, die Angst entdeckt zu werden war zu groß, und doch gehörte er zu ihnen, wie der Mond zu den Sternen gehörte. Die Scheune in die sie sich geflüchtet hatten ist nicht ideal aber das morsche Holz bietet etwas Schutz gegen das aufziehende Gewitter. Der Mond schien durch die alten, zerbrochenen Fenster und warf groteske Schatten auf den alten, staubigen Boden. Sie kauerten in einer Ecke, die zitternden Körper fest aneinander gepresst und ihr Atem hing wie kleine Wolken in der, nach nassen Erde riechenden, Luft. Ihre Muskeln brannten, die Erschöpfung machte sich langsam bemerkbar. Sie alle hatten genug, eine weitere Verfolgungsjagd würden sie nicht überstehen.
Marlenes Schulter war inzwischen taub, und ihr Arm hing nutzlos an ihrer Seite herab. Das Blut war getrocknet, und ihr Shirt klebte an ihrer Haut. Mary weinte leise, und Jonathan legte einen Arm um ihre Schulter.
iv.
"Es muss weit nach Mitternacht sein. " Murmelte Lily und fuhr sich über die müden Augen. „Marley meinst du, du hältst bis zum Morgen durch?“
Marlene stöhnte. „Meine linke Seite ist inzwischen komplett taub. Ich glaub was auch immer das vorhin war, es hat irgendwas wichtiges getroffen. Ich weiß nicht ob es noch blutet, aber ich hab ziemlich viel verloren und langsam wird mir schwindelig. Ich glaube nicht das Rennen in dem Zustand eine Option ist.“ Sie holte tief Luft. „Also falls wir rennen müssen. . . lasst mich zurück.“
„Bist du wahnsinnig? ! Wir können dich doch nicht einfach zurück lassen.“
„Mary bitte sei vernünftig. Das ist nur- das ist nur angewandter Utilitarismus. Weißt du noch wie Miss Johns uns das erklärt hat? Ich ziehe euch nur runter und würde euch langsamer machen und das würde eure Chance zu überleben verringern. Und du kannst nicht von mir erwarten-“
„Genug davon!“ Das war Jonathan. „Marlene rennen wird keine Vorraussetzungen sein. Bis zum Morgen werden die uns sicher gefunden haben. Vier amerikanische Teenager verschwinden nicht einfach so. Und dann wirst du versorgt werden und wir können zurück nach Hause und das alles vergessen.“
Marlene schwieg. Sie bezweifelte das sie diese Nacht jemals vergessen werden könnte aber es hatte keinen Sinn mit Jonathan zu diskutieren. Er war schließlich nicht um sonst der beste Rhetoriker der ganzen Schule. Wenn Jonathan richtig in Fahrt kam würde er es sogar schaffen den Präsidenten davon zu überzeugen das der Himmel eigentlich grün ist.
Lily seufzte. „Ich hoffe du hast Recht.“
v.
„Es regnet.“ Waren die Worte zu denen Marlene aus einem unruhigen Schlaf gerissen wurde. In ihrem Kopf hämmerte es, und der Schwindel wurde schlimmer. Ihre Sicht war verschwommen, und sie schaffte es nie ganz sich auf eine Sache zu konzentrieren. Sie spürte wie ihr Herz wie wild in ihre Brust pochte, und obwohl sie saß atmete sie schwer.
Sie richte sich etwas auf um aus dem Fenster zu schauen, hörte es aber eher als das sie es sah. Dicke Tropfen Regenwassers platschten auf den Boden und der Geruch von nasser Erde wurde noch stärker.
Sie wollte antworten aber ihre Zunge war schwer und pelzig und bevor sie es merkte war sie wieder eingeschlafen.
vi.
Sie nahm Stimmen um sich herum war. Wie bei einem Radio das langsam die richtige Frequenz suchte, verstand sie nur die Hälfte. Irgendwann kam ihr Geruchsinn zurück und der stechende Geruch von Desinfektionsmittel und Linoleum stieg ihr in die Nase. Dann nahm sie ein leises, aber regelmäßiges Piepen wahr.
Schließlich schaffte sie es ihre Augen zu öffnen und starrte eine weiße Decke an. Sie sah zwar, verstand aber nicht was sie erblickte. Es dauerte ein paar Sekunden bis sie registrierte das sie in einem Krankenhaus lag.
Mühsam griff sie nach der Fernbedienung und drückte den Klingelknopf für die Schwester, die wenige Sekunden später herein kam.
„Oh gut.“ Sagte sie und lächelte. Sie fuhr das Bett nach oben, so das Marlene aufrecht saß. „Hast du Schmerzen?“
Marlene runzelte die Stirn. Schmerzen? Warum sollte sie denn schmerzen haben. . ? Langsam kamen die Erinnerungen zurück, und das hätte sie gern verhindert. Sie erinnerte sich an die Todesangst die sie hatte, und an die Scheune und an Mary und Jonathan und Lily-
„Geht es ihnen gut? Meinen Freunden meine ich.“ Krächzte sie. Die Schwester nickte und schraubte an einem Gerät herum. „Sie haben eine leichte Unterkühlung aber sonst geht es ihnen gut. Du allerdings hast sehr viel Blut verloren und hättest es beinahe nicht überstanden. Hätten euch die Polizisten nicht gefunden. . .“
Für ein paar Minuten herrschte schweigen dann-
„Weiß man denn schon was es war?“
„Wie bitte?“
„Was uns da durch den Wald gejagt hat.“
Die Schwester schüttelte den Kopf. „Da ihr es nicht gesehen habt, tappen die Behörden im Dunklen. Sie vermuten aber das es irgendein Tier war.“
„Ein Bär?“
„Hier?“ Die Schwester lachte. „Ganz bestimmt nicht. Okay das wäre es für jetzt. Ich werde dir jetzt ein Schmerzmittel geben, denn sobald die Narkose aufhört zu wirken, werden die Schmerzen ziemlich groß sein. Wir haben deine Eltern verständigt, du kannst also bald nach Hause. Soll ich dir etwas zu essen besorgen?“
Marlene schüttelte den Kopf. „Ich hab so gar keinen Hunger.“
Die Schwester lachte wieder, und fuhr das Bett wieder in eine horizontale Position. „Ich kann mir vorstellen das du erstmal genug von Deutschland hast. Okay- soll ich deine Freunde reinschicken oder möchtest du schlafen.“
„Schlaf hört sich gut an.“
Mit einem Lächeln verabschiedete sich die Schwester und Marlene schlief langsam wieder ein.
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