Perfektion
„Es reicht!“, genug Salz in die offenen Wunden gestreut! Gleichgültigkeit, Trotz, Wut, Tränen. Hass. Alles brach über sie hinein, wie eine Welle – ein riesiger Tsunami – aus Gefühlen und Eindrücken. Schnell fuhr sie sich mit den Händen über das runde Gesicht.
Sie stand auf, bereit, sich nicht mehr zu verstecken, zu verkriechen. Zu oft hatte sie heimlich geweint, wenn keiner in der Nähe war. Zu oft sich versteckt und versucht, alles auszublenden. Bereut, etwas gesagt oder getan zu haben, dass dann letztlich doch zu neuen Vorwürfen geführt hatte. Doch was hätte sie tun sollen? Es gab einfach kein Entkommen, keinen Weg in die Freiheit. Dachte sie bis jetzt. Und doch musste es einen geben, es gab immer einen Fluchtweg.
„Neue Jacke?“, wie oft hatte sie das schon gehört? Höchst einfallsreich, immer das gleiche zu flüstern, zu tuscheln, zu wispern. Noch schlimmer, wenn man immer wieder darauf reagierte. So wie sie.
„Halt’s Maul“, eine Standardantwort. Hinter ihr johlte man. Ignorieren. . . Einfach ignorieren…
„Sie ist schlecht gelaunt… was ist denn los, Schätzchen?“, wie der Kosename klang… zischelnd, wie eine Schlange. Sie wirbelte herum und doch entwich kein Ton ihrer Kehle. Keine kecke Erwiderung, wie man es vielleicht erwartet hätte. Obwohl – nein, nicht von ihr. Von ihr erwartete man Tränen, doch diese Genugtuung bot sie ihren Widersachern diesmal nicht.
Sie stand noch immer, perfektioniert und doch nicht gut genug. Es war ihr egal, dass sie ihr Leben lang auf Perfektion hingearbeitet hatte und es trotzdem nicht war. Aber wer brauchte schon Perfektion?
Ihre Träume fest im Blick erhob sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Stimme, ihre Persönlichkeit. Sie blendete die Stimmen der Kritik aus, die Diskussionen, den Streit. Wie sie es schon immer getan hatte.
Sie hatte genug davon. Hatte es einfach satt!
„Ich habe eine Zeit lang versucht, so zu sein wie ihr. Waren die schlimmsten fünf Minuten meines Lebens“, keiner johlte mehr. Es herrschte unerwartete Stille und sie spürte die Blicke, die sich durch ihren Körper bohrten wie sengend heiße Nadeln.
Unwichtig, was man über sie denken mochte. Sie war perfekt, würde nun leben. Für sich, nicht für andere. Einfach leben, wahrhaftig leben.
Denn alles andere hatte sie schon genug getan.
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