Perpetuitas finitavon Ursula Zaiser
„Bitte“, flüsterte der Mensch, der Atem rau, der Herzschlag schwach. „Gib mir nur noch ein bisschen mehr von dir. Damit ich es richten kann. Ich will alles wieder gutmachen, ich versprech’s. Gib mir nur ein bisschen mehr.“
„Habe ich das nicht immer?“ Sanft war die Stimme, so anders als die Worte, die sie sprach. „Habe ich dir nicht immer noch ein wenig mehr gegeben? Ja, das habe ich. Nur hast du es nie bemerkt. Du hast es als selbstverständlich erachtet. Hast es nicht zu würdigen gewusst. Egal wie viel ich dir überlassen habe, es war dir immer zu wenig, hat dir nicht ein einziges Mal gereicht. Dabei war ich so lange bei dir, dein ganzes Leben lang. Vor deiner Geburt habe ich dich erwartet, habe beobachtet, wie du gewachsen bist, mehrmals fast starbst, aber irgendwann doch groß und stark und schön geworden bist. Für eine Weile hattest du auch Klugheit in dir.“
Die Stimme wurde leiser, langend streckte der Mensch die Hand nach ihr aus.
„Bitte, geh nicht! Verlass mich nicht!“ Der Mensch schrie. Die Stimme wisperte.
„Du warst so schlau, so unfassbar clever. Egal, vor welche Aufgabe du gestellt wurdest, du hast das Problem auf eine Weise gelöst wie niemand es erwartet hätte. Du hast meine Gaben zu schätzen gewusst, hast gebetet und gedankt. Immer. Bis deine Klugheit in Torheit umschlug. Und du mit einem Mal nicht genug bekommen konntest. Plötzlich hast du mehr verlangt, deine Genügsamkeit wurde zu Gier, deine Milde zu Geiz. Du hast begonnen, mich einzuteilen, mich zu verfluchen, weil ich einmal nicht verging und dann wieder viel zu schnell für dich lief. Aber ich hatte meinen Schritt nie beschleunigt, war immer im gleichen Tempo unterwegs, habe dir immer gleich viel gegeben. So sehr wollte ich dich glücklich sehen, der Grund dafür sein, dass du glücklich bist, aber wie sollte ich aus meiner Haut, ich war seit Ewigkeiten immer gleich und mit einem Schlag war ich nicht mehr gut genug für dich. Habe deine Ansprüche nicht mehr erfüllt.“
„Aber das ist nicht wahr!“, rief der Mensch und der Schrei brachte ihn zum Husten. Samtrotes Blut lief über sein Kinn wie ein Bächlein des Lebens. Schimmernd tropfte es auf sein Bett. Es war verschmutzt von Asche und zersplitterter Erde. „Du warst doch immer da für mich und ich habe es gewusst, hörst du, ich habe es doch gewusst! Ich hab es dir nur nie gezeigt, weil ich so dumm war! Du hast Recht, ich war so dumm, habe es nie geschafft, weil anderes so wichtig schien…“
„Im Laufe der Zeit hast du es perfektioniert, dich zu rechtfertigen. Mittlerweile bist du Meister darin geworden. Jeden könntest du täuschen. Selbst mich. Wie gerne wäre ich blind für deine Blindheit.“
Mit jedem Wort, das sie sprach, wurde die Stimme erstickter. Verlor an Kraft.
„Du hast mich nie so akzeptiert, wie ich war, wolltest wissen, wie ich irgendwann aussehen werde und dann wieder, wie ich früher war, weil Früher schon längst aus deinem Gedächtnis verschwunden ist. Du wolltest mich verändern, die Geschichte neu schreiben, in der Hoffnung, dadurch zu verbessern, dabei hättest du es nur schlimmer gemacht. Jeden Tag und jede Nacht hast du dir ausgemalt, was du in Zukunft schaffen würdest und hast dabei keinen einzigen deiner freien Momente ganz im Einklang mit mir verbracht. Als Kind hast du es so oft getan, aber dann war plötzlich Schluss damit. So selten hast du das genossen, was du schon besaßest, beinahe nie. Wann hast du je im Jetzt gelebt? Wann hast du dich fallen lassen? Du hast dich gefragt, warum du keine Luft bekommst, fragst es dich jetzt. Und vor lauter Fragen hast du vergessen, wann du tatsächlich atmen kannst. Selbst wenn du es für ein paar Augenblicke wusstest, hast du nicht versucht, diesen Zustand zu erlangen. Hast den Schmerz in deiner Brust ignoriert, so lange bis du ihn gar nicht mehr wahrgenommen hast.“
„Sag sowas nicht, bitte! Ich konnte nicht anders, wie hätte ich denn sonst weitermachen sollen? Da war so viel Leere in mir, ich habe mich selbst aufgefressen! Bitte, lass mich jetzt nicht im Stich! Ich brauche dich doch!“
Dem Menschen liefen Tränen über das fahle Gesicht. Eines der wenigen Körperteile, das noch echt war. Wie viel von sich er durch Technik ersetzt hatte. Wie hoch er geklettert war, nur um zu fallen.
„So war es nie, das weißt du. Du sagst, du brauchst mich und damit liegst du richtig. Doch du hast es nie verstanden. Wenn deine Gedanken angefangen haben zu rotieren und sich doch nicht vom Fleck bewegten, hast du nicht begriffen, warum. Du bist wie ein Drogenabhängiger, der seine eigene Krankheit nicht sieht, nicht erkennt, dass er sich selbst mit jeder Sekunde, in der er die Realität mit Ablenkung bekämpft, selbst zerfleischt. Ja, ich könnte dir noch eine Chance geben. Aber ich kenne dich zu gut. Ich weiß, dass du sie nicht nutzen würdest. Du magst gelernt haben, mich zu messen, doch durchschaut hast du mich nie, ganz egal wie sehr du es versucht hast. Erst jetzt, wo du siehst, dass ich dir ausgehe, begreifst du, wie sehr du von mir abhängst.“
Das rotschillernde Blut des Menschen auf seinem Bett war getrocknet als mattes Braun. Fügte sich perfekt ein in den Schmutz, der das Laken besetzte. In seinen Augen glitzerte noch immer das Funkeln, das dort von Anfang an gesprüht hatte, schon im Moment seiner Geburt. Doch nun war es geschwächt. Ausgezehrt und leer. Und gleichzeitig ein letztes Aufbegehren. Das Funkeln flehte.
„Bitte“, hauchte er noch einmal. „Lass mich nicht allein. Du kannst mich doch hier nicht einfach liegen lassen. Empfindest du nicht so etwas wie Liebe für mich? Hast du das nicht die ganze Zeit über gesagt?“ Erst als das Wort schon lange über seine Lippen gekommen war, begriff der Mensch, dass er in die Falle getappt war.
„Das mag schon sein.“ Wie eine sanfte Brise wehte die Stimme über den Menschen hinweg, leicht wie die Luft es einst gewesen war. Bevor sie beim Atmen in den Lungen zu schmerzen begonnen hatte wie feurige Glut.
„Doch das ändert nichts. Mich gibt es schon sehr viel länger als dich. Ich habe keinen Anfang, kein Ende. Wenn die Unendlichkeit dir nicht genügt hat, wie sollen dir dann die paar Wimpernschläge reichen, die ich dir noch verschaffen könnte, bevor du dich endgültig zu deinem eigenen Verderben machst?“
Zum letzten Mal strich die Zeit der Menschheit auf ihrem Sterbebett über die Wange. Dabei war sie sanft und liebevoll, wie nur etwas Unendliches es sein kann. Denn nur die Unendlichkeit kennt Milde.
„Du hast mich nicht genutzt. Dabei hättest du jede Chance dazu gehabt.“
Und die Zeit ließ den Menschen auf seinem Sterbebett zurück, das ebenfalls gerade starb. So würde zumindest keiner der beiden dabei einsam sein.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX