Petunienblätter
Paul M.
Paul M. hat heute verschlafen. Er hat den Wecker auf den Kopf gedreht und die Zeiger für dünne schwarze Zigaretten gehalten. Er nimmt die Zigarette, zündet sie an und verbrennt sich die Finger am schmelzenden Plastik. Paul M. ist verwirrt, greift nach seinen Schuhen und befördert sich aus der Tür. Paul M. rennt zur Arbeit. Rennt mit der Zeit, um die Zeit, gegen die Zeit. Pause ist für Paul M. verlorene Zeit. Paul M. erreicht das Büro, seine fettigen Haare schlagen um sich und er fällt beinahe über Tatjana S. Paul M. hat sich selbst auf der Suche nach anderen verloren. Angekommen an seinem Platz nimmt er den Trott seines Arbeitslebens wieder auf.
Petra K.
Im Büro sitzt Petra K. und wartet auf Paul M. Sie wartet nicht gerne, aber Paul M. lässt sie gerne warten. Sie mag Paul M. Er weiß es nicht. Petra K. setzt Kaffee auf. Die Zeiger fallen abwärts. Ein Petunienblatt segelt auf den Boden. Petra K. dreht sich um und hebt es auf. Paul M. stürzt durch die Tür in seinen Schreibtischstuhl. Entschuldigend setzt er die Kaffeetasse an die Lippen. Petra K. träumt von großen Erlebnissen und begnügt sich mit den Kleinen. Ein weiteres Petunienblatt endet auf dem Büroboden. Petra K. hebt es auf und schmeißt es weg. Souverän ins Anthropozän.
Simon B.
Simon B. schreitet auf die Bürobühne. Er weiß gerne, was in seinem Büro passiert. Die Türe schließt sich und damit die Möglichkeit zur Flucht für Paul M. und Petra K. Simon B. weiß was er will. Er will Produktivität und möglichst viele Produkte. In seiner Rechnung sind Petra K. und Paul M. zwei festgezerrte Faktoren. Das Ergebnis muss stimmen. Die Petunie verliert Blatt um Blatt. Sie haben Simon B. nie verstanden. Simon B. ist ein getriebener Mann. Im Getriebe sucht Simon B. nach Genugtuung. Er findet jedoch nur Geldscheine, sein Bedürfnis nach Anerkennung nicht stillend. Während die Zeiger ihre Kreise ziehen, positioniert sich Simon B. in seinem Büro und träumt von alten Tagen, als Röckelüften noch salonfähig war.
Tatjana S.
Tatjana S. kehrt den Büroboden. Sie lässt sich Zeit und die Zeit lässt sie kehren. Stunde um Stunde, Tag um Tag setzt sie den Besen an. Wisch, Strich und Pause. Tatjana S. hebt die gefallenen Petunienblätter auf und leert sie in den Eimer. Simon B. betritt das Büro. Wisch, Strich und Pause. Verdrängt und vergessen. Langsam stirbt die Petunie und die Stunde. Petra K. schleicht sich herein. Blickt an Tatjana S. vorbei und setzt Kaffee auf. Wisch, Strich und Pause. Tatjana S. ist fast fertig. Jetzt noch Kapital entstauben und sie darf gehen. Eigentlich würde Tatjana S. gerne weit weg gehen, fort von ihrer wiederkehrenden Arbeit, doch das Leben hält sie fest. Paul M. stürmt herein, stolpert über Tatjana S. und fällt in seinen Schreibtischstuhl. Tatjana S. ist fertig. Fertig mit ihrem Faktor. Tatjana S. verabschiedet sich bei Simon B. und hält ihren Rock ein wenig fester nach unten. Die Petunie ist erdrückt und liegt am Boden. Morgen wird Tatjana S. wieder kehren.
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