Philosophierende Nacktschnecke
Der glitschige, wulstige Körper der Nachtschnecke ächzte über den weichen Grund, bedeckt von einem Teppich sattgrünen Mooses. Mit jedem Millimeter, den sie sich fortbewegte, hinterließ sie eine schmierig weiße Schleimspur wie die Brotkrümel, die Hänsel hatte fallen lassen, damit er den Weg nach Hause fand. Doch die Schnecke wollte nicht zurück. Sie wusste nicht, wie groß die Distanz war, die sie an diesem Tag zurückgelegt hatte, die sie auf ihrer prallen, rostbraunen Haut über Gras, brüchige Erde und Moos und Moos und Moos geglitten war. Aber für heute war es genug. Sie hatte genug getan.
Für heute.
Aber morgen würde es nicht mehr genug sein. Morgen würde das Genug von heute seinen Sinn verlieren, keine Gültigkeit mehr haben und das, was sie heute geleistet hatte und wofür sie stolz auf sich sein konnte, würde morgen keine Rolle mehr spielen. Es sei denn, die Schnecke machte weiter. Quälte sich wieder und wieder über unüberwindbare Hindernisse in der Hoffnung, nicht von einem zu hastigen Menschenfuß zerquetscht zu werden. Und am Tag nach Morgen würde es genauso sein. Sich irgendwie weiterschleppen. Obwohl sie eigentlich weit genug gekommen war. Aber das Genug von heute war kein Genug für morgen. Die Schnecke fragte sich, warum sie überhaupt noch weiterkroch. Sich mit jedem Zentimeter quälte, konnte ihr Leben doch jederzeit enden, wenn sie nur einmal nicht genug tat. Warum tat sie es sich an, peinigte sich täglich aufs Neue für ein Genug, das ihr keinen Lohn brachte, weil Genug viel zu schnell wieder zu Nicht Genug wurde? Warum machte sie weiter? Worin lag der Sinn, genügen zu wollen, wo man es doch ohnehin niemals ewig konnte? Worauf gründete die Hoffnung, irgendwann anzukommen und einmal nicht weiterkriechen zu müssen, weil Genug anhielt? Wieso hegte sie immer noch diese Gedanken?
Mühsam rutschte die Schnecke einen abgerundeten Stein hinunter. Unendlich langsam. Schwerfällig als wöge sie tausende Tonnen und nicht bloß wenige Gramm. Sie hinterließ eine schmierig weiße Schleimspur auf dem monotonen Grau des Gesteins unter ihrem glitschigen Körper. Würde es gewürdigt werden? Würde irgendwann jemand denken, dass hier eine tapfere Nacktschnecke gekrochen war auf der Suche nach dem Genug, das immer währte? Nein. Und wenn doch, würde er darüber lachen. Denn wer glaubte ans ewige Genug?
Die Nacktschnecke kroch weiter, als ekelerregendes, niederes Wesen. Warum war sie so geboren worden? Hatte sie in ihrem früheren Leben nicht genug getan, um Besseres zu sein?
Das Mädchen lachte. Gelassen beobachtete es den Kampf der Nacktschnecke mit dem Waldboden, betrachtete eingehend den hinterlassenen grauweißen Schleim. Wieder musste das Mädchen lachen. Als würde eine Schnecke nach Genug fragen. Oder nach dem Sinn des Lebens. Sie war nur ein Tier ohne Gedanken, mit schlagendem Herzen, aber nicht auf der Suche nach Sinn. Es war so albern. Eine Schnecke würde nie beim ewigen Genug ankommen. Wie denn auch, wenn das Mädchen selbst es nicht konnte? Wenn kein Mensch es konnte?
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