Platons Palingenese
„Während ich auf den Berg voll Arbeit, die sich auf meinem Schreibtisch angesammelt hat, blicke, bilden sich wieder unzählige Knoten in meinem Hals, die mir meine ganze Motivation zum Lernen verderben. Ja, Erfolg kommt bekanntlich von harter Arbeit, aber lohnt es sich bei mir? Allein der Gedanke, dass ich an all den Aufgaben schon wieder bis mindestens 23 Uhr sitzen werde, löst eine unbegreifliche Leere in mir aus. Es fühlt sich an, als wäre ich ein Roboter, der auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitet und dazwischen nichts empfindet. Je länger ich mich in diesem emotionslosen Zustand befinde, umso stärker befürchte ich, diesem Teufelskreis nie wieder zu entkommen. Musste ich mich zwischen Erfolg und permanenter Freude entscheiden? Das Einzige, was mich jetzt noch vom Zusammenbrechen abhält, sind meine bisherigen Erfolge: das Lob meiner Lehrkräfte, die entsprechenden Noten und die Hoffnung auf etwas Größeres als ‚nur‘ ein ‚Sehr gut‘ in Altgriechisch, nämlich auch das erfolgreiche Teilnehmen an der Olympiade. Ohne das Ganze hätte ich schon lange aufgegeben, da bin ich mir sicher.
Nur ganz kurz verliere ich meinen Fokus und schon spielt sich wieder meine Vergangenheit vor mir ab: Nächtelang litt meine Psyche darunter, dass mein Lächeln von einer einzigen Person, die mich nicht wertschätzte, abhing. Als ich mich schließlich von dieser distanzieren konnte, fand ich in der sehr einsamen Zeit ein neues Hobby: Altgriechisch – aus scheinbar willkürlich zusammengewürfelten Zeichen konnte ich sinnvolle Texte bilden und von diesen eine Menge lernen – und das alles auch noch auffallend schnell. Ein Schulfach, das anfangs nur als reine Ablenkung dienen sollte, wurde so zur Leidenschaft, die der nötige Balsam für meine Seele war.
Schlagartig füllen sich meine – eben noch leeren – Augen wieder mit tausend Träumen. Stolz. Gewinn. Erfolg – ein happy End. So ein kleiner Gedankenschub reicht aus, damit ich wieder Gefallen daran finde, auf mein Ziel hinzuarbeiten. Unabhängig davon, wie erschöpft ich jetzt bin, weiß ich – tief in mir – ganz genau, dass sich alles auszahlen wird, weil ich jetzt schon so weit gekommen bin …“, lese ich – vollkommen perplex auf dem Boden sitzend – den 15 Jahre alten Tagebucheintrag, den ich in der hintersten Ecke unseres Dachbodens gefunden habe. Eigentlich war ich auf der Suche nach Homers Odyssee, die ich meiner engagiertesten Schülerin Aurora aus dem Olympiade-Kurs, den ich seit Jahren führe, leihen wollte. Sofort spüre ich in meinem Herzen eine erfüllende, schon längst vergessene Wärme von all den Erinnerungen an meine Schulzeit, nach der ich mich so lange zurückgesehnt hatte. So bemerkte ich zunächst gar nicht, dass diese gesamte Zeit hindurch schon lautlose Tränen – vor Freude und Überforderung – meine Wangen hinunterliefen. Erst jetzt begreife ich, wie sehr mich Aurora an mein jugendliches Ich erinnert. Erst jetzt begreife ich, dass meine Geschichte nie ein Ende nahm, sondern sich schlichtweg in Aurora fortsetzte.
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