Platz 713
Als ich an meinem kleinen Bahnhof einstieg und mich zu meinem Sitzplatz begab, war der Platz 713, der Platz gegenüber meinem, leer. Leichter Regen setzte ein und prasselte trostlos gegen die Scheibe und ließ die graue Welt dahinter verschwimmen, als sich der Zug langsam wieder in Bewegung setzte. Eine Weile beobachtete ich die vorbeiziehende Landschaft, doch alles sah gleich aus, nichts hielt meinen Blick gefangen und so döste ich irgendwann, mit dem Kopf gegen die Scheibe gelehnt, ein. Ich erwachte erst wieder, als der Zug bremsend in eine Station einfuhr. Ein alter Mann rutschte auf die Bank mir gegenüber, auf den Platz 713, sein wettergegerbtes Gesicht von Falten geprägt, doch die Augen, die hinter seiner Brille hervorblickten, hatten schon so viel von dieser Welt gesehen und dennoch ihren Glanz nicht verloren. Aus der Tasche seines Mantels holte er eine zusammengefaltete Zeitung, breitete sie über seinen Platz aus und vergrub sich hinter ihr. Kaum eine Viertelstunde später stand er auf, faltete die Zeitung und verließ den Platz, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die Zeitung ließ er zurück. Als ich das nächste Mal erwachte, war ich von dem Lachen eines kleinen Kindes geweckt worden. Eine junge Mutter saß auf dem Platz 713, einen kleinen Jungen auf dem Schoß, der glücklich mit einem Buntstift auf der Zeitung malte. Als sie merkte, dass ich erwacht war, schenkte sie mir ein entschuldigendes Lächeln und strich ihrem Sohn durch das dunkle Haar. Eine Weile betrachtete ich die glückliche Szene, die an Kindheit und Geborgenheit erinnerte, bevor ich meinen Blick über die Landschaft jenseits des Fensters streifen ließ. Als der Regen schon eine Weile aufgehört hatte und auch die Landschaft jenseits des Fensters wieder etwas an Farbe zeigte, waren auch sie gegangen. Für die nächste Zeit blieb der Plat 713 leer, was mir Zeit gab ihn zu betrachten. Dunkles abgewetztes Leder zeugte von den vielen Menschen, die sich auf ihm auf einen Teil ihrer Reise begeben hatten. Die leicht beschlagene Plakette mit den Ziffern 7, 1, 3, glitzerte in der Sonne, die sich in ebendiesem Augenblick durch die Wolken schob. Die bemalte Zeitung des alten Herrn war auf den Platz nebenan gerutscht. Eine junge Hand hob sie auf legte sie auf den Tisch, bevor sich der Junge auf dem Platz niederließ und gegen die Sonne blinzelte. Eine Weile saß er mir schräg gegenüber, doch als eine ältere Dame fragte, ob sie sich auch setzen könnte, rutschte er breitwillig auf den Platz 713. Vermutlich mangels Alternativen fing er irgendwann ein Gespräch mit mir an, erzählte von seinen Abenteuern und Zielen und ich hörte aufmerksam zu. Seine Geschichte, die sich so von meiner unterschied, so, wie sich das Leben meiner davorigen Mitreisenden von dem meinigen unterschieden hatte. Jeder von ihnen hatte seine eigene individuelle Lebensgeschichte, doch hier im Zug, auf dem Platz 713 hatte sich ihre Geschichte für ein paar Augenblicke mit der meinigen überschnitten.
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