Polarstern
Ich war vierzehn, als mein Vater mir das erste Mal den Polarstern am Nachthimmel zeigte. Trotz der Eiseskälte, die diese Nacht mit sich brachte, erwies ich mich als geduldig, während ich mir erklären ließ, wie man anhand der Sternenbilder ringsumher den hellsten unter ihnen ausmachen konnte. Alsbald ich ihn klar vor Augen hatte, konnte ich mir gar nicht erklären, wie es mir zuvor überhaupt möglich gewesen war, ihn zu übersehen. Er ragte aus der erstickenden Dunkelheit der wolkenlosen Nacht hervor, als würde er geradezu darum bitten, bestaunt zu werden. Damals verschwendete ich nicht einen Gedanken daran, dass ich eines Tages ohne meinen Vater leben müsste. Sorgen um meine Zukunft waren mir fern, denn immerhin war er da, um mir zu versichern, dass alles gut werden würde. Und ich hatte keinerlei Schwierigkeiten seinen Worten Glauben zu schenken. So war es immer und so würde es auch immer sein.
Ich war fünfzehn in der Nacht, in der mein Vater starb. Mein starrer Blick war auf den Nachthimmel fixiert. Dort, wo normalerweise der Polarstern thronte, türmten sich Ansammlungen an Wolken auf. Auch nur einen Blick auf die Sterne zu erhaschen, war heute Nacht vergebens. Es war banal, beinahe grausam, wie sein Tod ein so großes Loch in mein Leben reißen konnte. Noch banaler war die Vorstellung, dass es Worte gab, die Ruhe in mein Herz einkehren lassen konnten. An keinem Tag, in keinem einzigen Moment in meinem Leben hatte ich jemals das Gefühl ratlos zu sein. Ich wusste immer schon was zu tun war, ja selbst im Kindesalter wusste ich genau, was die Zukunft für mich bereithalten würde. Die Versicherung, dass es jemanden gab, der mich in meinen Entscheidungen bestärken würde, hatte mir Hoffnung gegeben. Angst vor dem was noch kam war mir fremd. Jegliche Selbstsicherheit, jegliches Vertrauen in meinen zukünftigen Weg war nun verschwunden, als hätte es niemals existiert. Existenzangst. Angst vor der Zukunft. Meiner eigenen Zukunft, die ja eigentlich in meiner Hand liegen sollte. Nur tat sie das nicht. Sie lag in der Leere der Ungewissheit, weit entfernt von jeder Möglichkeit der Rehabilitation. Das trostlose Grau der Wolken hatte einen dichten Schleier über den Nachthimmel gezogen. Der warme Sommerwind schob den massiven Wolkenblock am Himmel mit Mühe in den Süden. Es geschah langsam und schien zunächst wie ein endloser Prozess, aber eventuell wanderte der graue Schweif weiter und die Himmelskonstellationen lugten hervor. Abrupt, als hätte man mich mit einem Zauber belegt, unterbreitete sich ein neuer Gedanke in mir. Wie der Wolkenturm, so würde auch meine Aussichtslosigkeit vorbeiziehen. Was auch immer es war, dass die Zukunft für mich bereithielt, ich konnte es bewältigen. Als wären meine Bitten und Gebete erhört worden, fühlte ich mich versichert. Ohne dass nur auch ein Wort gesagt wurde, wusste ich, dass alles gut werden würde. Der Polarstern strahlte heute Nacht besonders hell.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX