Potenziell magischvon Hannah Moyschewitz
Die Wände waren kalt. Ihre Augen waren es auch. Angst ist kein Feuer. Angst ist Eiswasser. Wie kalter Nebel nach einer frostigen Nacht kriecht sie über deine Haut und du würdest dich schütteln, um dieses Kribbeln loszuwerden. Wenn du dich nur schütteln könntest …
Der Stuhl ist hart und unbequem. Eine dicke Lackschicht schützt das Holz und jetzt fühlt es sich künstlich an. Die kalten Wände, der glatte Fußboden, die Gitter vor den Fenstern – nichts davon natürlich. Mein Blick findet seinen Ausgangspunkt wieder. Es ist etwas völlig anderes, Angst in Augen zu sehen oder sie selbst zu verspüren. Ich spüre ihre Angst und ich sehe es in den gehetzten Fenstern zur Seele. Rastlos, glasig und wohl ein wenig wütend. Schließlich bereitete ich gerade furchtbare – Räuspern: „Ihr Name?“
„Was soll mit ihm sein?“
„Wie lautet er?“
Ihre Stimme verriet mir, dass sie sich hätte erneut räuspern müssen. Das Kratzen in ihrem Hals unterdrückend hob sie die linke Augenbraue. Nein. Sie hob die rechte Augenbraue. Verdammte Links-rechts-Schwäche.
„Zacharias“
„Und weiter?“, die Stimme des Mannes war nicht so angenehm. Er war wütend, Wut macht die Stimme hässlich.
„Ich würde es bevorzugen, Sie nennen mich beim Vornamen. Das ist auch viel verbindlicher und transparenter.“
„Sie scheinen mir aber nicht transparent sein zu wollen.“ Seine Stimme war noch immer grauenvoll. Als würde man mit wütendem Schleifpapier Körnung 180 über einen sanften Stoff streichen. Seide oder Satin.
„Wie kommen Sie auf die Idee, ich würde Transparenz vermeiden wollen?“ Ich selbst war mir größtenteils unschlüssig, was ich wollte, wie konnte er es sich anmaßen?
„Sie wollen uns Ihren Namen nicht verraten. Sie tragen einen langen schwarzen Mantel mit der Kapuze bis tief ins Gesicht gezogen. Hat Ihnen Ihre Mutter nicht beigebracht, anderen Menschen ins Gesicht zu sehen, wenn Sie mit ihnen sprechen?“
„Ich befürchte, dass es dazu nie gekommen ist. Aber nun bin ich interessiert, sind Sie ein Psychopath?“
„Wie bitte? ! Ich bin Psychologe!“
„Also ein Psychopath, der seine Bedürfnisse nicht auslebt. Tragisch. Ich nehme an, ein Kindheitstrauma? Welche Aggressionsbewältigungsmethoden wenden Sie an?“
„Wie können Sie es wagen, so mit mir zu sprechen? !“ Wir waren inzwischen bei Körnung 100 angekommen.
„Auf diese Reaktion hin vermute ich mal, dass ich mit der schweren Kindheit falsch liege. Vielleicht haben Sie Probleme mit Zurückweisungen? Wie sieht es denn mit Ihnen und dem weiblichen Geschlecht aus? Womöglich auch dasselbe Geschlecht?“
„Ich denke, wir sollten uns wieder auf das eigentliche Problem konzentrieren. Wieso haben Sie das getan, Zacharias?“
„Wieso ich so viel Geld für diesen totschicken Mantel ausgegeben habe? – Habe ich nicht. Ich habe ihn gefunden. Weshalb ich Sie um Tee und nicht um Kaffee gebeten habe? – Kaffee bekommt mir nicht so gut. Ich leide dann unter Sodbrennen, eines der intensivsten Gefühle, zu die unser Körper fähig ist, wenn Sie mich fragen. Warum ich damals -“
„Beginnen wir besser mit einer anderen Frage: Sie gehören dem Stamm der Uhkurah an. Stimmt das?“
„Das ist korrekt.“ Die Agentin musste sich nicht mehr räuspern. Ihre Stimme war fest und sicher. Faszinierend, wie schnell sich jemand wieder in die alltägliche Professionalität flüchten konnte. Ich griff zu meiner Tasse und trank einen Schluck. Kräutertee, eine meiner liebsten Sorten, aber das war vermutlich nur Zufall. Wer würde einem Verbrecher beim Verhör den Lieblingstee servieren? Tasse wieder abstellen. Das dumpfe Geräusch wurde von den kahlen Wänden und dem metallenen Tisch reflektiert.
„Woher haben Sie diese Verletzungen?“ Sie spielte auf meine Finger an. Ich korrigiere, auf die leider nicht vorhandene Existenz.
„Wovon sprechen Sie?“
„Ich spreche davon, dass Ihnen 3 Finger fehlen.“
„Also bitte. Das ist ein ernsthaftes Gespräch, da müssen wir bei der Wahrheit bleiben, es sind 2 ½ Finger.“
„Also?“ Schon wieder die rechte – linke? – rechte Augenbraue. Das war wohl ein Tick, eine Gewohnheit.
„Sie waren ein Preis, den ich für Unwissen zahlte.“
„Wie kann man für Unwissen bezahlen?“ Der Herr hatte offensichtlich seine Sprache wieder gefunden und beschlossen, dass eben Geschehene nicht noch einmal anzusprechen.
„So, wie man auch für andere Dienste und Gegenstände zahlt. Mit Konsequenzen.“ Die Erinnerungen kamen, ohne eine Chance, sie auszusperren. Der Knall, die Erkenntnis, der Verlust. Das Gefühl, sie wären noch da, war unerträglich geworden. Sie schmerzten, juckten, verkrampften – oder zumindest sollten sie das tun. Aber da war nichts. Nein, nein, nein. Wieder eine Schatulle finden und die Gedanken wegschließen, fern vom bewussten Denken, in die Tiefen des Unterbewusstseins hinabstoßen und hoffen, dass die Kletterkünste zu wünschen übrigließen.
„Wie hat Ihr Stamm die große Katastrophe überstanden? Ich habe gehört, die Ureinwohner hatten mehr Glück als die Zivilisation.“
„Wir hatten nicht mehr Glück. Wir hatten mehr Verstand. Die Zivilisation! Ein Kind – ein halber Mann – könnte eine solche Umweltkatastrophe besser überstehen als eine Horde von euch Gluoksch.“
„Da hätten wir ja schon den ersten wunden Nerv!“ Das Grinsen arrogant und die Stimme voller Hohn, Diplomatie existierte wohl in dem Vokabular dieses Mannes nicht.
„Wären Sie so freundlich und bringen uns eine weitere Kanne Tee, Professor?“
„Aber natürlich.“ Das gekünstelte Lächeln stand ihm nicht. Meiner Ansicht nach, noch weniger als die Wut. Der Sessel wurde lautstark zurückgezogen und der Bierbauch fand sich eine Etage höher wieder. Er schnappte sich die Kanne und schon war er zur Tür hinaus.
„Sie hatten also nur mehr Verstand?“, sie amüsierte sich offensichtlich. Eine Überraschung, dass sie das angesichts dieser Lage überhaupt noch konnte.
„Wir Uhkurahs wissen, wie man überlebt. Wir kennen die Pflanzen und Tiere, die uns am Leben halten. Wir sehen den nächsten Sturm weit in der Zukunft. Wir finden Orte, an denen uns die Natur im Schlafe schützt. Wir mögen zwar nicht leben, so wie Ihr es gerne nennt, aber wir überleben. Auch ohne Straßen und Wolkenkratzer, ohne Speisedienst, Chauffeure und Sicherheitsbeamten.“
„Aber wenn Sie Ihre Gemeinschaft so lieben, warum halten Sie sich seit mindestens einem Jahr in unserer Stadt auf?“, sie beugte sich nach vorn und ihre Stimme war nicht viel mehr als ein Flüstern, „Wieso wollen Sie Ihren Stamm brennen sehen?“
Die Tür wurde schwungvoll geöffnet und der Professor hatte seinen dramatischen Auftritt, natürlich nicht ohne mürrischen Ausdruck um Mund und Augen.
Die Spannung in der Luft war verflogen, und als die Kanne lautstark auf die Tischplatte traf, wäre ich beinahe zurückgezuckt.
Sie räusperte sich: „Danke, Professor.“
Nicken. Er beugte sich nahe an ihr Ohr und murmelte. Hätte er nicht eine so undeutliche Aussprache gehabt, ich hätte vermutlich lauschen können. Ihre Gesichtsmimik änderte sich. Ich konnte es nicht beschreiben, aber es war da. Die Unterhaltung hatte wohl ein Ende gefunden, denn nun wandte er sich wieder mir zu. Ohne mich aus seinem Blick zu lassen fragte er: „Wo seid ihr stehen geblieben?“
„Ich hatte gerade gefragt, warum der Verdächtige seine Angehörigen töten wollte.“
„Ich wollte das nie. Ich wurde moralisch- und gewissensbedingt dazu gezwungen.“
„Welch ein origineller Grund! Von sowas habe ich ja noch nie gehört!“ Jetzt wusste ich, warum ich mit Sarkasmus nie weit gekommen war. Es brachte einen in angsteinflößender Schnelle zum Kochen.
„Zacharias, wir können beweisen, dass Sie diese Gebäude in Brand gesetzt und somit auch die dort lebenden Menschen getötet haben. Es liegt nun an Ihnen, sich zu erklären. Möglicherweise können Sie etwas Licht in die noch dunklen Ecken bringen.“
Ein freundliches Angebot, dass sie mir gerade entgegenbrachte, aber ich hatte nicht vor, ihnen meine Lebensgeschichte zu erzählen.
„Oder Sie schweigen weiterhin, was Ihre Motive angeht und wir schleppen Sie vor Gericht, Sie werden einvernehmlich schuldig gesprochen und gehängt – oder anderes.“
Vielleicht war die Idee, alles zu erzählen, doch nicht so schlecht.
Tiefes Seufzen meinerseits.
„Ich hoffe, Sie haben heute keine Verabredung. Das könnte etwas länger dauern.“ Beide blickten mich neugierig an. Ja sogar der Professor war gespannt. Hatte er den unsympathischen Psychologen nur gespielt? Hatte er mich nur provozieren wollen? War das nur eine Maske gewesen? Aber schlussendlich war es wohl gleichgültig.
Meine jedenfalls würde nun fallen.
Erneutes Seufzen und ich begann zu erzählen: „Ich wurde geboren, ich gehe davon aus, dass Ihnen das klar ist. Ich kann Ihnen keinen Ort und keine Zeit dafür nennen. Wir Uhkurahs sind nicht so versessen auf Daten, wie ihr es seid. Wir wandern und bereisen die Welt und obwohl wir immer zu denselben Orten zurückkehren, finden wir sie jedes Mal verändert vor. Wir zählen auch nicht die Zeit, die wir schon auf dieser Welt wandeln. Ein Junge wird zum Mann, wenn er dazu bereit ist. Dann sucht er sich seinen Beitrag zum Stammesl -“
„Was ist mit den Mädchen?“, ein emanzipationswürdiger Einwurf der Damenwelt in diesem Raum, „Wann werden sie zu Frauen?“
„Ein Mädchen wird zur Frau, wenn sie blutet. Auch sie haben dann die Möglichkeit zu wählen. So viel zu unserem Aufwachsen. Ich wurde von unserem Heiler erwählt, sein Schüler zu sein, das bedeutete, eine wichtige Position zu bekleiden. Er lehrte mich, Gaben der Natur zu erkennen und sie zu verwenden. Seien es Salben, Tränke oder Umschläge – die Erde gibt uns, was wir brauchen. Wir müssen nur hinsehen. Selbst nach dem krular Uakro – Ihr nennt sie die große Katastrophe – konnten wir in der Natur finden und uns daran stärken. So lebte ich eine Zeit lang. Ich zog mit allen Stammesmitgliedern von Ort zu Ort, leistete meinen Teil und wurde ein angesehenes Mitglied, was wohl auch meiner Tätigkeit zu verdanken war.“
„Den Aufzeichnungen nach zu urteilen war das Ökosystem größtenteils zerstört. Der Kreislauf entrüttelt. Wie viele wart Ihr? Um die 60, nicht wahr? Wie sollten 60 Menschen – darunter Kinder – unter diesen Umständen weiterhin leben können?“ Ich war mir sicher, dass das der wahre Professor war. Nicht wütend, sondern ausgeglichen. Nicht aggressiv, sondern beherrscht. Nicht emotional, sondern analytischem Gemüt.
„Die Natur hat krular Uakro weitaus besser verkraftet als wir Menschen. Schließlich war das ja auch der Zweck, oder? Wir mussten dezimiert werden. Ihr wart zu gierig, ihr wart zu dämlich. Wir konnten die Welt nicht retten, also nahm sie das selbst in die Hand. Sie erholt sich erstaunlich schnell, wissen Sie? Es war schwierig, keine Frage, aber wir konnten es schaffen. Wir sind ulahre – die Lebenden.“ Eine Pause entstand, in der jeder seinen eigenen Gedanken nachging. Die Älteren, die krular Uakro überstanden hatten, pflegten uns so zu nennen. Die Lebenden.
Mit einem Räuspern unterbrach ich die Stille. „Im Übrigen wäre es mir sehr recht, wenn Sie mich nicht mehr unterbrechen würden.“
„Ich war glücklich und auf eine verdrehte, seltsame Art und Weise empfand ich Genugtuung gegenüber euch Gluoksch. Als Uhkurah hat man eine besondere Bindung zu unserer Umgebung. Ich als Heiler noch mehr. Ich würde sie fast als innig beschreiben, die Emotionen, die mich an das Land binden. Unser Heiler war wie ein Vater für mich, mein Leiblicher war noch vor meiner Geburt verstorben. Er kam bei einem Erdrütteln ums Leben – eine Nachwirkung des krular Uakro. Als meine Mutter mich gebar, verstarb auch sie, und statt ihrer wurden Erde, Wälder und Wiesen meine Eltern. Unser Heiler nahm sich meiner an. Er sah den Tod meiner Mutter als Zeichen, dass unsere Götter mich für seinen Nachfolger bestimmt hatten. Er erklärte mir, dass nun die Natur meine Eltern und Lehrer sein würden, und das waren sie.“
Aufflammende Erinnerungen hinderten mein Gehirn daran, sich auf das Erzählen zu konzentrieren. Die erste selbstständig hergestellte Salbe, das Versorgen von Wunden, das Jagen, das Tanzen, das warme Feuer, meine erste Schwärmerei … Bild für Bild lief mein Leben vor mir ab. Ich glaube, die Gluoksch nannten das Dischashow. Driashow? Diaschrou? Ist ja auch egal.
Räuspern von gegenüber. War ich schon so lange in Gedanken? Was hieß denn überhaupt so lange? Wie lange dachte ich denn, dass ich weg gewesen wäre? Und was wäre so schlimm daran? Jetzt verunsicherte ich mich schon selbst. Bald kam es so weit und ich würde mich selbstständig verhören.
Erneutes Räuspern, das mich an meine liebenswerte Gesellschaft erinnerte.
„Ich hatte also eine schöne und lehrreiche Kindheit und Jugend. Aber dann kam Besuch. Wir hatten damals schon öfter Gluoksch herumstreifen sehen, aber keiner war bis so tief in unsere Heimat gedrungen. Leider mussten wir feststellen, dass sie gekommen waren, um zu bleiben. Noch schlimmer, es wurden mehr. Sie wollten, wie ihr alle, sesshaft werden. Etwas völlig Unsinniges, wenn Sie mich fragen. Aber kommen wir wieder zu den Fremden zurück. Sie hatten keine unserer Orte gewählt, und so stellten wir uns auf eine unaufregende Koexistenz ein. Fürs Erste war das auch so. Kurz nachdem ein paar Häuser fertiggestellt waren, suchten Sie nach uns. Diese Gebäude, das waren riesige graue Klötze in der Landschaft. Nicht einmal die umgebende Natur konnte diese Dinger verschönern, wie auch, sie wurde zerstört! Mit riesenhaften Maschinen kamen diese Menschen und was sie nicht töteten, vertrieben sie mit dem Lärm. Sie wollten uns kennenlernen, erklärten sie uns. Sie wollten Handel mit uns treiben. Da begann die ganze Sache einen überaus üblen Geruch zu verbreiten. Wir Uhkurahs leben ohne viel Besitz, handeln also auch nicht viel. Die Allgemeinheit weiß das auch. Die Chancen, dass in einer solch großen Gruppe niemand davon wusste, waren also gering. Ich behielt mit meiner Annahme recht.“
Meine Güte, ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal so viel an einem Stück geredet hatte. Ich griff zu der grünen Tasse und trank einen Schluck. Der Tee war nur noch lau und die Glasur zerkratzt.
Ich fuhr fort: „Nachdem die Häuser fertiggestellt waren, überragten sie beinahe die höchsten Bäume. Aber das viel Schlimmere: Sie machten Jagd auf uns.
Der Startschuss, der aus uns Freiwild machte, war ein Angriff am helllichten Tag. Einerseits nicht besonders gut durchdacht, in der Nacht wären sie eine größere Überraschung gewesen. Andererseits wohl ihre beste Chance, eure Augen sind nicht an das Licht der Nacht gewöhnt. Wir hingegen sahen uns gezwungen, nach krular Uakro auch in der Nacht auf die Jagd zu gehen.
Viele meiner Stammesleute wurden an diesem Tag verschleppt, einige sogar getötet. Von diesem Zeitpunkt an waren wir nicht mehr sicher. Die meisten von uns können sich zwar durchaus wehren, aber gegen eure lauten Waffen kommen wir nicht an. Als auch ich den Gluoksch zum Opfer fiel, fürchtete ich, als Mahlzeit für Menschenesser zu enden. Dem war aber nicht so, und in manchen Nächten wünschte ich, die Sache wäre damit gegessen gewesen.“
Für meine Zuhörer gestattete ich mir wahrscheinlich eine dramatisierende Kunstpause. Die Wahrheit war viel schlichter – ich wusste nicht mehr, wie ich weitererzählen sollte. Mein Unterbewusstsein ließ die Schreie ungefragt noch einmal ertönen. Als würden meine Nächte nicht aus dem Fliehen vor diesen Erinnerungen bestehen. Als könnte ich sie nicht oft genug hören. Was ist dieses masochistische Wesen, das mich nicht einfach vergessen lässt? Welches vernünftige Tier lässt sich selbst so lange leiden?
„Sie hätten nicht zufällig etwas Essbares hier? Mit leerem Magen kann ich mich nur schwer konzentrieren.“ Ablenkung. Ablenkung ist gut. Ablenkung ist wichtig. Ablenkung ist das Richtige. Aber diese kleine Stimme in mir weiß es besser und flüstert: Nein. Das ist sie nicht und das weißt du.
Die Dame stand auf: „Ich muss mir sowieso die Beine vertreten.“
Mein Magen knurrte erfreut auf. Oder zumindest knurrte mein Magen und ich war erfreut. Wie lange hatte ich nichts mehr gegessen? Alles Gewöhnungssache, irgendwann war da kein Hungergefühl mehr. Man musste nur aufpassen, dass da dann nicht gar kein Gefühl mehr war.
„Danke, sehr liebenswert. Es muss auch nichts Aufwendiges sein. Ein paar Sandwiches, Scones, oder vielleicht eine Crème Brûlée als Abgang?“
„Ja ja.“
Die Tür wurde von ihr sanft zugezogen und damit waren der Professor und ich allein. Kein Wort wurde gewechselt, allerdings musterte er mich mit einer ungewohnten Intensität. Es fühlte sich an, als würde man gehäutet werden. Naja, die Haut unwillentlich zu verlieren würde wohl schmerzhafter sein, aber mir fiel gerade keine bessere Metapher ein. Kein Wunder, bei einem solchen Blick konnte man sich ja unmöglich konzentrieren. Aber da kam auch schon meine Rettung in Form von drei Tüten Chips.
Ich nahm mir die grüne Packung und obwohl diese stark gewürzten Kartoffelscheiben nichts mit meinem früheren Leben gemein hatten, erinnerte mich die Farbe der Tüte an die Nadeln und Blätter der Bäume und das Gras, auf dem ich einst barfuß ging. Hier in dieser Stadt gab es nur wenige Flecken Grün. Aber hier war die Natur schmutzig. Die Erde war voller Müll und die Bäume hatten zwischen den hohen, grauen Blöcken zu wenig Sonnenschein, um einmal so groß zu werden wie ihre Ahnen.
Mit einem Ruck öffnete ich die Tüte und aß. Chips waren eine der wenigen Dinge, die ich in dieser Stadt lernte zu schätzen. Wir Uhkurah hatten auch Gewürze und Beigaben, allerdings war nichts so köstlich wie diese dünnen Scheiben.
So kam es, dass eine Agentin, ein Professor und ich an einem Tisch saßen und Chips aßen. Wäre das alles nicht passiert und ich jetzt beim Feuerfest, wäre das möglicherweise der Anfang eines Scherzes gewesen. Aber ich saß in einem grauen, hohen Gebäude bei einem Verhör, durch Raum und Zeit weit weg von Wald, Feld und Feuerfest.
Runterschlucken, dann sprechen: „Mir wurden die Sinne mit einer scheußlichen Tinktur genommen und als ich erwachte, lag ich in einem grauen Zimmer. Kein schönes Grau, wie ich hier anmerken möchte. Das Grau dieser Stadt erinnert mich sehr daran. Haben Sie schon mal daran gedacht, ein wenig auszumalen? Grün würde diesen Wänden ein gewisses Etwas geben. Aber ich schweife ab. Ich befand mich also in diesem grauen Zimmer. Ein Spiegel war an der Wand befestigt, riesig und einsehbar – zumindest von einer Seite, wie ich später feststellte. Jedenfalls ließen mich diese Menschen eine lange Zeit warten, da hatte ich schon den Verdacht, dass ich doch nicht mit Menschenessern zu tun hatte. Als sie dann doch auftauchten, nahmen sie Teile von mir. Ein wenig Blut, ein wenig Haut, ein wenig Ich. Ich wurde Tests unterzogen, vielen Tests, bevor ich etwas zu Essen und Trinken bekam. Lange Zeit sah ich niemanden außer den Kittelträgern. Jeden Tag denselben Ablauf. Schrecklich für einen Uhkurah. Kein Tag ist bei uns wie ein anderer, manchmal feiern wir, manchmal haben wir nichts zu essen, aber es ist nie dasselbe. Zermürbend, das war es.“
Ich wurde unterbrochen: „Von welchen Tests sprechen Sie?“
„Sie nahmen regelmäßig Proben von mir, wie ich bereits erläutert habe, und gaben mir immer wieder Spritzen. Ich musste Laufen, ohne vom Fleck zu kommen, musste komisch herumhüpfen und mit den Armen wedeln. Sie lernten meiner Zunge eure Sprache und versuchten mich zu ertränken. Ich wurde befragt, ähnlich wie jetzt hier. Allerdings fanden die meine Antworten nicht halb so charmant wie Sie es tun. Im Übrigen hatte ich Sie gebeten, mich nicht mehr zu unterbrechen, Professor.“
Wieder in die Tüte greifen. Kauen beruhigt die Nerven, und die kleine Pause lässt mir Zeit nachzudenken. Aber mein Gehirn funktioniert nicht. Es verweigert den Dienst und lässt nur ein dumpfes Weiß zurück. Meine Finger zucken, aber sie tun es nicht. Sie bewegen sich nicht. Sie sind nicht mehr da. Meine Augen sind offen und sehen, aber sie schicken die Informationen nicht bis in mein Denkzentrum. Da ist nur dieses dumpfe Weiß. Ich schließe meine Augen. Tief durchatmen, sage ich mir. Einfach atmen. Du hast es auch das letzte Mal geschafft. Denk an das dunkle Grün der Nadeln, an das Funkeln der Flüsse, an das Feuer in dunkler Nacht. Während ich mein Selbstgespräch führte, begann das Weiß dunkler zu werden, und als es schließlich beinahe Schwarz war, zuckten auch meine Finger nicht mehr. Ich besann mich noch einen kurzen Moment und fokussierte meine Gedanken wieder.
Angestarrt zu werden ist nie angenehm. Der Moment jetzt überschritt allerdings definitiv die Grenze meiner Komfortzone, um die Stille zu umgehen, räusperte ich mich: „Wie war die Frage nochmal?“
„Wir haben nichts gesagt.“ Jetzt starrte sie mich noch intensiver an. Das war dann wohl ein Reinfall, ich war es gewöhnt, dass mich Leute während sowas fragten, ob es mir noch gut gehe. Dass die beiden aus dem Regelfall auszuschließen waren, hätte ich mir denken können.
Meine Gedanken wurden von einem Klingeln jäh unterbrochen und die Agentin verließ schnellen Schrittes den Raum. Wieder entstand eine unangenehme Stille.
„Fühlen Sie sich schlecht, weil Sie das getan haben?“, ihn sprechen zu hören überraschte mich so sehr, dass ich nicht hingehört hatte.
„Wie bitte?“
„Zeigen Sie Reue gegenüber den Menschen, denen Sie Schaden zugeführt haben?“
„Ich bedaure, dass es so weit kommen musste. Aber sie ließen mir keine Wahl.“
Es entstand eine kurze Denkpause und da öffnete sich die Tür auch schon wieder. Herein kam die Agentin, mit unruhigen Augen zuckte ihr Blick vom Professor zu mir und wieder zurück zu ihm.
Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder und atmete dabei tief durch. „Sie sollten sich mit Ihrer Erzählung beeilen, Zacharias. Ihr Gerichtstermin wurde vorverlegt, wir haben nicht mehr lange Zeit.“
„Aber Sie haben ja noch gar ni -“
„Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist: Die große Katastrophe hat Vieles geändert, unter anderem auch unsere Regierung. Die wollen einen Kopf rollen sehen, und soweit ich das beurteilen kann, haben wir den Täter in Ihnen gefunden.“
In einer verzweifelten Geste strich ich mit meiner gesunden Hand über den Kopf und fegte mir damit die Kapuze vom Haupt. Mein Anblick musste erschreckend sein – zumindest erzählte mir das ihre Mimik. Ich verstand es, haarlos und mit Feuermalen gezeichnet war ich wahrlich kein schöner Anblick.
„Dann eben schnell. Sie führten also Tests an mir durch. Ich habe in meiner Zeit in der Stadt viel Mühe in Informationensuche investiert. Mit Erfolg, ich verstehe jetzt, dass diese Menschen das Ziel der Eugenik vor Augen hatten. Eine sehr nationalsozialistische Einstellung, einen Super-Menschen zu basteln. Aber da ihnen die Fortpflanzung von Menschen zu lange gedauert hat, haben sie unterschiedliche Arten und Weise ausprobiert. Manchen von uns wurden Substanzen injiziert, manchen von uns wurden Dinge entnommen, um zu sehen, wie weit sich der Körper noch selbst heilen kann. Während meines Aufenthaltes dort habe ich auch andere Stämme gesichtet. Sie wollten wohl auch herausfinden, warum wir den krular Uakro besser verkraftet hatten als ihr.
Jedenfalls gab es viele Tote, wie Sie sich sicher vorstellen können. Ich aber gehöre zu den Trophäen.“
Wie ich diesen Begriff nur hasste. In etwas Heiliges wie das Leben einzugreifen war eine Sünde.
„Die Versuche fruchteten. Ich habe – wie sage ich das bloß? – in mir ist das Potential für Magie entstanden. Ich kann also mit genug Energie und dem richtigen Mitteln Zauber wirken. Allerdings hatte das auch seinen Preis. Ich habe HSAN. Das ist eine seltene Nervenkrankheit, die, seit krular Uakro, wie auch andere ungewöhnliche Abnormitäten häufiger auftritt. Ich verspüre keine Schmerzen und ich kann keine Temperaturen erspüren, zusätzlich ist auch die Anhidrose – also die Schweißbildung – erheblich gestört. Das führt schon im Alltag zu vielen Problemen. Nach meiner Flucht aus dieser Anstalt hat mich diese Krankheit viel Zeit und Mühe gekostet, ich musste erst wieder lernen, allein zu überleben. Deshalb zog es mich auch in die Stadt zu anderen Menschen, anhand ihnen konnte ich feststellen, wie warm und kalt es war. Ich beobachtete meine Mitmenschen mit ganz neuem Interesse. Das Interesse zu überleben. Als ich mich zu einem gewissen Teil eingewöhnt hatte, begann ich zu experimentieren. In unserem Stamm war allgemein bekannt, dass Magie aus Schmerz, Wut und Trauer entsteht. Glauben Sie mir, ich hatte genug davon. Mit diesen Informationen können Sie sich ausmalen, wie ich etwaige Gliedmaßen verloren oder mir diese Male zugezogen habe“, dabei deutete ich auf mein Gesicht. Ich hätte gerne gefragt, wann meine Zeit zu Erzählen vorbei wäre, aber wenn ich ehrlich war, wollte ich es gar nicht wissen.
„Mein eigentlicher Plan war es, die Vergangenheit zu ändern und die Geschichte meines Stammes neu zu schreiben. Aber so oft ich es versucht habe, der Erfolg war mir nicht vergönnt. Ich war verzweifelt. Wenn die Gabe in mir erschienen ist, wieso konnte ich sie nicht einsetzen, um zu helfen? Irgendwann war der einzige Ausweg, den ich noch sehen konnte, ein Zukunftszauber.
Ich habe den Zauber gewirkt, ich habe diese Gebäude in Brand gesetzt und habe zugesehen, als die Menschen brannten.“
Tiefes Durchatmen. Diese Worte hatte ich noch nie laut gesprochen und auch, wenn ich nichts an meiner Entscheidung ändern würde, trauerte ich. Sie sahen mich nicht geschockt an. Warum waren sie nicht schockiert?
Ich schloss meine Augen: „Eine Legende der Uhkurah erzählt von jemanden, der glaubt, sein Leben hätte keinen Sinn mehr, und darauffolgend in einen See watet, um sich zu ertränken. Aber als er umringt von Wasser auf sein Ende wartet, beginnt er zu kämpfen. Seine Arme schlagen um sich und seine Beine strampeln, bis er sich wieder an der Oberfläche findet. Er wollte nicht sterben, er wollte nur das Leben eines anderen führen. …
In der Zeit in der Anstalt begann ich den Wunsch, nicht mehr zu leben, zu verstehen. Kurz nach der Flucht kam ich an einem See vorbei, wie in der Erzählung beschrieben. Ich watete in das blaue Nichts und wartete. Aber mein Körper tat nichts.
An diesem Tag verlor ich fast, was mir immer heilig war, und da wusste ich, dass sie sterben mussten.“
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