Raskolnikow, das Leiden und der starrende Mann
Das Leben hat schlaue Wege gefunden, um unsere fragilen Stellen zu finden, um zerbrechliche Teile unserer Seele zu erobern, um uns machtlos fühlen zu lassen.
Meine Tasche war von meinen Büchern bewohnt. Ich habe versucht, mich von ihrem knorrigen Gewicht zu befreien, aber ich hielt durch. Ich setzte mich in einen Zug und nahm ein Taschentuch heraus, um den Schweiß zu entfernen, der die Feuchtigkeit auf meiner Stirn verursacht hatte. Ein Mann beschloss, sich mir gegenüber zu setzen. Ich probierte sein strapaziöses Auftauchen zu ignorieren und beschloss, ein Buch aufzuschlagen: Schuld und Sühne. Bevor ich jedoch den Epilog las, erweckte ein qualvolles Grübeln mein stagnierendes Bewusstsein. Niemand ist jemals in der Lage, fremde Qualen zu bemerken, oder zu begreifen, warum jemand im Meer des Elends ertrinkt. Warum? Weil wir es vorziehen, in malträtierten Schweigen zu leiden. Das Schweigen ist ein Kuvert, welches die Antwort verhüllt, die uns dabei hilft, zu ergründen, warum jemand leidet. Wir besitzen aber die Fähigkeit, Leiden zu instrumentalisieren. Mit dem Ziel, eine Unterscheidung zwischen Glück und Unglück zu schaffen, zwischen Sensibilität und Lähmung und zwischen Belebendem und Ermüdendem. Leiden sät die Saat der Demut. Wir werden zärtlich, weniger stur. Wir versuchen, Streit und Aufregung zu vermeiden. Leiden nährt jedoch nicht den Boden unserer Essenz. Wir verändern unsere Zukunft durch unsere Entscheidungen. Raskolnikow litt, weil er sich dazu entschied, die Pfandleiherin mit einer Axt zu töten. Raskolnikow tötet nicht, weil er ein Mörder ist. Er ist ein Mörder, weil er getötet hat. Somit sind sein angeborener freier Willen und seine unumgängliche Geworfenheit sein größter Feind. Mein Gedankengang wurde leider unterbrochen, weil der eingangs erwähnte Mann begann, mich anzustarren. Meine Visage schien ein inniges Enigma zu sein. Was soll ich tun? Aussteigen. Ich stand auf. Er hörte nicht auf zu starren. Ich entkam. Der Zug fuhr davon und mit ihm der starrende Mann. Ich empfand wieder dieses penetrierende Gefühl: Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich dabei ertappe, örtlich ausgerenkt zu sein. So unbewusst, dass ich dieses fiktive Hologramm eines Buches von der Realität nicht mehr unterscheiden kann. Hiermit ist aber kein überfortschrittliches Kindle gemeint. Während ich in einem Milieu existiere, welches in einem Roman dargestellt wurde, bekomme ich Vertigo. Chaos überkommt mich. Mit Anna Karenina bin ich bereits einen traurigen Zug gefahren. Im Untergrund habe ich mich schon über den egoistischen Rationalismus beschwert. Lieber hätte ich mich in einen romantischen Jean-Luc Godard Film verirrt. Der starrende Mann stand plötzlich vor mir. Wie ist dies jedoch möglich? Er ist doch mit dem Zug weggefahren. Es schien, als hätte das qualvolle Inferno der Perplexität ein unbesetztes Zimmer für mich vorbereitet. Wer ist dieser Mann? Ein Phantom? Er näherte sich. Ich ging auf ihn zu. Er starrte. Eine vakante Starre, wie die eines Roboters.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:




















Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX