Raus
Eddie hielt sich nicht für besonders ängstlich. Doch heute war jeder Schritt eine Überwindung für ihn. Vielleicht sollte ich nicht hier sein. Hier ist es nicht sicher.
Er hielt den Kopf gesenkt, versuchte erst gar nicht, seine Sorgen auszublenden. Jemand würde ihn sehen. Jemand würde ihn aufhalten. „Sie dürfen hier nicht sein. Wurde gerade beschlossen.“
Er wollte auch nicht hier sein. Hier, draußen. Nach all der Zeit, die er unter seiner Decke verbracht hatte, war es draußen kalt.
Ein Risiko für die Gesellschaft, das war er. Aber was sollte er tun? Er hatte keine Wahl, er brauchte etwas zu essen. Egal, wie er sich jetzt fühlte, er konnte nicht den Rest seines Lebens Pizza bestellen, außerdem, wer weiß, vielleicht ist Liefern ja noch gefährlicher.
Eddie hielt sich nicht für besonders ängstlich. Aber nach und nach, auf den fünf Minuten von seiner kleinen Wohnung zum Spar, kroch sie in ihm hoch, kam aus den Tiefen seines Bauches und nistete sich in seinem Kopf ein, von wo aus sie seine Adern flutete. Seine Hände waren kalt.
Er versuchte, sich zu beruhigen. Ein bisschen Angst war okay. Jeder hätte in seiner Lage ein wenig Muffensausen. Außerdem waren Leute ohne Angst nicht mutig, sondern einfach nur dumm.
Jeder hätte an seiner Stelle Angst, Gott, jeder hatte Angst! Und objektiv gesehen könnte es ihm schlechter gehen. Er sollte dankbar sein, dass er gesund war und ein Dach über dem Kopf hatte und noch keine Existenzängste.
Er war kein Kind mehr. Einkaufen zu gehen sollte für ihn nicht schlimmer sein als damals die Monster hinter seinen Vorhängen.
Eddie war wirklich keine ängstliche Person. Aber er sah Lücken in seiner Argumentation. Die Monster hinter seinen Vorhängen gab es nicht. Corona schon.
Durchatmen, bis zehn zählen, wie es seine Mama immer gesagt hatte, wenn er ihr von den Monstern erzählt hatte. Sie konnten einem nichts antun, wenn man nicht an sie glaubte.
Verdammt. Corona kann das schon. Finde bessere Logik, Eddie.
Aber es fiel ihm nicht leicht. Langsam verschwammen die Gedanken in seinem Kopf zu einer Nebelsuppe. Das Einzige, das er klar hören konnte, war die Stimme seiner Mutter.
„Atme, Eddie. Da ist ja nichts, siehst du?“
Nichts, in der Tat. Das war ja das Schlimme. Man konnte sie nie sehen, die Monster nicht und das Virus erst recht nicht. Trotzdem lauerte es hier, hier draußen, in den langen Regalen des Spars, in den Menschen vor ihm.
Er wollte nach Hause. Auf seiner Couch lauerte kein Corona. Unter seiner Decke wurden seine Hände nie kalt.
Eddie überquerte die Straße. Inzwischen traute er sich nicht einmal mehr, in die Richtung von jemand anderem zu atmen. Ein Risiko für die Gesellschaft. Ein Risiko für sich selbst. Ein Rascheln hinter dem Vorhang.
Eddie hielt sich nicht für besonders ängstlich. Vielleicht hatte er damit sogar recht. Denn an diesem Dienstagnachmittag drehte er nicht um, so sehr er das auch wollte. Er setzte seine Maske auf und ging in den Supermarkt.
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