Rückkehr der Erinnerungen: Wie der Tanz die Vergangenheit wiederbrachte
„Wie fühlen Sie sich?“, fragte mich einer der Ärzte. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern, ich wusste nicht, was passiert war, als hätte man alles gelöscht. In den Zeitungen konnte man über den Autounfall lesen. Die Ärzte meinten, ich hätte Glück gehabt. Meine Mutter hatte es nicht geschafft.
Ich wusste nichts mehr, doch eine Sache hatte ich im Kopf. Das Tanzen.
Nachdem ich entlassen wurde, lief ich durch die Straßen von Paris und plötzlich begann ich zu tanzen. Es war dunkel, nur die Straßenlaternen beleuchteten die Wege. Der Wind blies mir die Haare aus dem Gesicht und ich genoss jede Drehung. Plötzlich hörte ich ein Klatschen und eine männliche Stimme rief „Fantastique! Excellement!“ Ich erschrak und sah eine Person, die auf dem Balkon stand und gerade Eine rauchte. Er stellte sich vor, er sei Trainer in der Opéra National de Paris. Es gäbe morgen Früh eine Audition für die Welttour, ich solle zum Vortanzen kommen.
Trotz Unsicherheit entschied ich am nächsten Tag meine Angst zu überwinden und ging zum Casting. Als ich an der Reihe war und die Musik begann, war plötzlich alles schwarz vor meinen Augen und ich konnte mich nicht bewegen. Ich rannte aus dem Raum, hinunter in die leere große Halle. Mir kamen die Tränen, mein Traum war geplatzt. Da überkam mich ein Gefühl und ich begann wie von selbst zu tanzen. Ich verlor mich in meinen Bewegungen, bis ich plötzlich zwei Stimmen hörte. Es war der Mann vom Abend zuvor und eine Frau aus der Jury. Sie kamen auf mich zu und erzählten mir von einer weiteren Audition, zu der ich kommen sollte.
Es war so weit und diesmal klappte es. Ich tanzte für meine Mutter. Ich erinnerte mich an nichts und das war schmerzhaft, aber ich tat es für sie.
Vier Tage später erhielt ich den Brief – Ich hatte die Rolle bekommen.
Fünf Monate hartes Training, eine Zeit voller Tränen und Besuche beim Psychologen, doch nichts konnte meine Erinnerungen zurückbringen. Sie waren alle verloren.
Dann war es so weit. Der rote Vorhang öffnete sich. Das Licht ging an, der große Saal schwarz mit Menschen gefüllt, Musik, die lauter wurde. Ich fing an. Ich fühlte mich frei, alles mit Leichtigkeit, als würde ich fliegen. Ich schloss die Augen und dann – wie ein Film im Kopf – Bilder von damals: meine Mutter, wie sie mich nach meiner Geburt im Arm hält; meine Mutter, wie sie mich in den Kindergarten bringt; meine Mutter auf unserem ersten gemeinsamen Urlaub am Meer; meine Mutter, wie sie mir Gute-Nacht-Geschichten vorliest; sie und ich am ersten Schultag; sie mit mir; wir gemeinsam mit so vielen schönen Momenten. Jetzt nur noch eine Erinnerung. Eine Frau, die sich um mich sorgte, mich bei allem unterstützte und immer hinter mir stand, die jetzt nicht mehr hier ist, die von mir gehen musste, weil ich beim Autofahren mit ihr diskutierte. Alles in einem Augenblick. Verschwunden und durch das, was sie liebte und mir zeigte, wieder da. Alles im Kopf.
Der Tanz war zu Ende, Applaus von allen Seiten. Mit einem Lächeln verschwand ich hinter die Kulissen.
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