Realitätsflucht - Die Jugend von heute?
„Bundestag beschließt Ceta-Abkommen“
„Belgien: Umstrittenes Atomkraftwerk in Tihange nach Brand wieder vollständig am Netz“
„Hohe Kinderarmut: Im Westen leben immer mehr Familien von Hartz IV“
„Deutsche müssen sich auf Rente mit 73 einstellen“
„Wahlbeteiligung so gering wie noch nie“
Ich gähnte und legte die Zeitung zur Seite. Ich konnte das alles einfach nicht mehr hören. Die Gesellschaft ging vor die Hunde. Sie verrohte. Und ich konnte nichts machen, obwohl ich ein Teil von ihr war. Ich wusste nicht einmal, ob ich etwas tun wollte. Es wäre doch ohnehin nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
In meiner Altersgruppe galt es als uncool, über gesellschaftliche oder politische Themen zu diskutieren. Oder ebensolche zu kritisieren. Viel einfacher war es, sich der Meinung der anderen anzuschließen. Was man wirklich dachte, behielt man in manchen Situationen besser für sich.
Wie zum Beispiel, dass ich mich sehr wohl fragte, wie wir die ganzen Flüchtlinge mitversorgen sollen, wenn wir doch selber schon so viele Obdachlose und armutsgefährdete Rentner hatten. Da ging ich mich lieber hin und likte "Refugees Welcome"-Bilder auf Facebook, um nicht aufzufallen. Denken konnte ich mir ja das meine. Ich wollte mich ja nicht als Nazi beschimpfen lassen, denn so einer war ich nicht. Ich hatte nur Angst um meine Zukunft.
Und das Ceta-Abkommen? Was sollte ich denn bitteschön dagegen ausrichten? Gegen das Abkommen demonstrieren gehen? Das hatten bundesweit ganze 320. 000 Menschen getan, und gebracht hatte es nichts. Daran hätte ich auch nichts ändern können.
Genauso wenig könnte ich den Betreiber des Atomkraftwerkes in Tihange dazu zwingen, das Kraftwerk abzuschalten. Ich war nur ein einzelner Mensch, und diejenigen, die die Macht hatten, das zu stoppen, taten es nicht. Zum Glück wohnte ich weit genug davon entfernt, falls mal was passieren sollte.
Und die Kinderarmut? Ja, sie war ein immer größer werdendes Problem in unserer Gesellschaft. Meine Familie hatte selber kein Geld. Die Politiker interessierte es herzlich wenig, denn deren Kinder wuchsen nicht in Armut auf, so gut, wie die verdienten.
Rente mit 73? Ich sah jetzt schon das Chaos, wenn 73-jährige Altenpfleger und Notärzte den Alltag am Laufen halten sollten. Die jetzigen Politiker waren von dieser Regelung nicht betroffen. Ich schon, aber ich hatte kein Mitspracherecht.
Und warum sollte man wählen gehen, wenn die Politiker schlussendlich dann eh machten, was sie wollten?
Ich zerknüllte die Zeitung und beförderte sie in den nebenstehenden Mülleimer.
Dieser Welt war nicht zu helfen. Ich hatte genug von ihr. Da wandte ich mich lieber eine der Welten zu, welche meine Computerspiele für mich bereithielten.
Kaum war das Spiel gestartet, vergaß ich all die schlechten Schlagzeilen.
Hier war ich am Geschehen beteiligt, ein aktiver Gestalter meiner Umwelt, ein Teil einer Community. Ich hatte genug von der Realität. Hier hingegen fühlte ich mich wohl. Musste mich nicht verstellen, um dazuzugehören.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX