Recht und Unrecht
Einatmen. Ausatmen. Ist es nicht das, was du wolltest? Einatmen. Ausatmen. Hätte nicht alles Leiden ein Ende? Wäre nicht der Quell des Hasses endlich gestillt? Einatmen. Ausatmen. Die züngelnde Wut in dir, die alles verbrennt? Dir die Luft zum Atmen nimmt? Dich an den Rand des Wahnsinns treibt? Einatmen. Ausatmen. Wäre nicht die Schuld endlich eingefordert? Wäre nicht der Gerechtigkeit genüge getan? Doch wie kann etwas gerecht sein, was unrecht ist? Kann ein Unrecht durch Gerechtigkeit gerechtfertigt werden? Einatmen. Ausatmen. Wer entscheidet über Recht und Unrecht? Ist es Gott, ist es der Mensch? Gäbe es Recht ohne Unrecht, Unrecht ohne Recht? Darf ein Individuum über die Frevel eines anderen richten? Darfst du über einen Frevler richten? Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Darf ich es? Darf ich ein Leben nehmen, weil dieses ein anderes nahm? Darf ich dasselbe fordern, was bereits gefordert wurde, nur weil es gerecht wäre? Über einen Frevler richten und zum Frevler werden? Einen Mörder ermorden und zum Mörder werden? Meine Hand zitterte leicht als ich die Finger um das kalte Metall schloss. Ich hob meinen Blick und begegnete dem meines Gegenübers. Tiefblaue Augen. Unergründlich wie die unendlichen Weiten des Nachthimmels. Doch kleine goldene Sprenkel umrahmten die Pupille. Wie die ersten Sterne am frühen Abend, die, wenn der Tag langsam der undurchdringlichen Schwärze der Nacht weicht, ihren Platz am Firmament zurückfordern. Merkwürdig. Dem hatte ich noch nie Beachtung geschenkt. Wie vielem nicht. Schluchzend wandte ich meinen Blick ab. Mein Innerstes wurde wieder und wieder und wieder in Stücke gefetzt. Ein tiefes Loch klaffte in meiner Seele und verschlang jegliche Hoffnung auf Glück. „Du kannst es nicht, oder?“ Ihre liebliche Stimme war ohne jeglichen Spott, als stelle sie bloß eine Tatsache fest. Ich richtete meinen Blick auf das Mädchen vor mir. Das Einzige was ich verspürte war dieser unfassbare Hass, der mich durchdrang, angefacht durch ihre Worte. Ich hörte mich spöttisch Lachen. Wie aus anderen Augen beobachtete ich mich, wie ich meinen Finger um den Abzug legte. Langsam trat ich einen Schritt nach vorne. Meine Augen waren trüb und emotionslos. Sie hatten bereits viel gesehen, zu viel. Glaubte sie etwa, ich würde zögern? Glaubte sie wirklich, ich würde zögern? Grinsend sah ich sie an. Da trat langsam Erkenntnis in ihren Blick, doch auch Verständnis. Schaudernd holte ich tief Luft. Ich wäre nicht anders als sie. Ich wäre nicht anders als sie. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Mehrere Sekunden verstrichen und ich traf meine Entscheidung. “Geh jetzt. Bitte.“
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