Regenschwere Augen
An jenem Tag war die Straße grau und rau, wie das Meer während eines Sturms. Die Wellen des Betons wogten hoch, der Wind peitsche über sie hinweg und riss braune Blätter und dürre Äste mit sich. Der Regen prasselte und wurde von der Oberfläche abgestoßen wie bei einem magnetischen Ping-Pong-Spiel. Es war sehr nass und kalt draußen. Ihr war sehr kalt. Gerade war ihr noch warm gewesen, aber jetzt spürte sie nur die kratzige Oberfläche des Betons und das Regenwasser, das in Miniaturflüsschen in den Kratern im Gesteinsgemisch unter ihr herumfloss. Beton ist sehr schön in seiner Unveränderlichkeit.
Die Wolken hatten sich immer noch nicht ausgeweint. Was die wohl so traurig stimmte? Die kühlen Tropfen von oben mischten sich mit ihren salzigen Tränen. Sie lag ganz unten. Ihre Tränen schmeckten an jenem Tag anders. Nicht normal. Nein… damals war auch etwas Bitteres dabei. Etwas Metallisches. Blut. Das Quietschen war endlich verhallt. Das Geräusch von bremsenden Gummireifen auf Stein - das fand sie noch schrecklicher als jenes von Filzstiften auf Whiteboards. Die Leute redeten. Hatten die nichts Besseres zu tun? Immer nur stehen und tratschen und gaffen. Sich am Schicksal anderer begeilen, um kurz aus seinem eigenen Leben zu flüchten. Auch nichts anderes als Fernsehen. Die Realste der Reality-Shows. Sie wollte gerne zittern, um ihre Muskeln zu wärmen, doch das funktionierte nicht. Sie wollte gerne aufstehen oder zumindest ihre Arme heben, aber auch das ging nicht. Ihre Augen wollte sie nicht öffnen, das hätte sie zwar können, aber die ließ sie zu. So sperrte sie den Moment aus, der sie hier niedergestreckt hatte mit all seiner Wucht. So hielt sie sich fest an dem, was in ihr war.
Von fern fingen Sirenen an zu singen. Sie wollte miteinstimmen, aber stattdessen mischten sich ihre gebrochenen Laute in den Chor des erschreckten Schluchzens um sie herum.
Bald hörte sie Türen schlagen, Metall quietschen, ein Keuchen, beruhigende Stimmen, sie spürte Hände, die ihr Spritzen gaben, sie einwickelten in etwas, behutsam forttrugen.
Bald rollte das raugraue Straßenmeer unter ihr hinweg. Sie wurde fortgeschafft in einem bauchigen Schiff. Fortgeschafft von dem Ort, wo der groteske trockene Fleck, an dem ihr Körper gelegen hatte, bald mit Regen bedeckt wurde. Die Tropfen wuschen das Blut fort und ihre Tränen. Sie trieben die Leute zurück in ihre Häuser, nachdem es dort, an dem Ort, nichts mehr zu sehen gab. Die wegziehenden Wolken nahmen auch sie mit, ihr altes Sie, denn irgendwann musste sie die Augen öffnen und es frei lassen. Hätte sie sie zugelassen, wer weiß, vielleicht wäre ihr Hals nicht über ihrem Kopf gelandet und ihre Beine nicht im Rollstuhl.
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