Reicht für heute
„Genug!“ sprach er mit Müdigkeit, und beendete es.
„Genug“ flüsterte sie und beendete es.
„Sie geben ihm die Schuld daran. Wie können sie es wagen. . .“
„Bitte, beruhigen Sie sich. Es ist nun wichtig, dass er genau davon nichts erfährt. Um alles andere kann man sich später kümmern.“
„Ja, ja, ja. . .“ Ihre Stimme war gebrochen und weinerlich und ertönte noch einige Male, während der Psychologe schon fortfuhr.
„Wann findet die Beerdigung statt?
„Montag“
„Nun gut. Das sollte mir für die heutige Sitzung genügen. Wir holen ihn rein.“
„Ja, ja. . .“
Tim, der die gesamte Unterhaltung mit dem Gesicht wenige Zentimeter von der Tür entfernt verfolgt hatte, trat 2 Schritte zurück und tat so, als würde er sich intensiv mit einem Wandbehang zu irgendeiner neuen medizinischen Verordnung beschäftigen. Nachdem seine Mutter mit der rechten Hand vor ihrem Mund kopfschüttelnd an ihm vorbei aus der Vorbesprechung lief, betrat er das gut belichtete Zimmer seines Arztes.
„Hey Doc´. Wie geht’s Ihnen?“ Sein Gesicht blieb ohne Ausdruck.
„Tag auch, Tim. Das ist eigentlich meine Frage wie du weißt,“ wurde er mit einem sanften Lächeln begrüßt.
„Bist du sicher, dass du alleine hingehen möchtest?“ Ein weiteres Mal.
„Ja.“
Ein letzter Blick in Richtung des Fahrersitzes, dann schlug Tim die Tür des Autos hinter sich zu. Sein Erscheinen wurde von kaum jemandem der 20 Personen in Schwarz bemerkt, die bereits in einem Halbkreis um die klassisch stattfindende Zeremonie standen. Er stellte sich an den Rand der Anwesenden. Weder ging er zum Grab, noch sprach er Worte. Das Ganze war genug für ihn; einfach da zu sein.
Als das gesamte Prozedere beendet war und sie viel zu tief unter der Erde lag, löste sich die Gruppierung langsam auf. Nun wurde Tim von allen Vorbeiziehenden bemerkt. Keinen davon kannte er, bis auf ihre Mutter, die ihn mit der rechten Hand vor dem Mund kopfschüttelnd passierte, und ihren Vater, der sich kurz zu ihm hinunterlehnte und mit angespannten Kiefermuskeln „deine Schuld, scheiß Emo“ flüsterte.
Nachdem auch dieser hinter ihm verschwunden war, verblieben Tim und eine Person, die er nur von Bildern kannte – ihren Bruder. Dieser stellte sich, ohne seinen Namen zu nennen, neben ihn.
„Tim, oder?“ Auf ein Nicken hin fuhr er fort.
„Stimmt es, dass du dabei warst?“
Mit plötzlich zitterndem Unterkiefer erwiderte Tim: „ Wir sind nur nebeneinander eingeschlafen. Ich wusste nicht, dass sie die Tabletten genommen hatte.“
„Ihre letzten Worte?“
„Genug. Einfach nur genug.“
„Was war ihr genug? Du kanntest sie.“
Tim blickte zu dem unbekannten Bruder in einem Hemd hinüber.
„Ich weiß nicht. Ich vermute der Vater, der seinen Schuldigen immer schon gefunden hat. Die Mutter, die allen die Schuld geben wollte, nur nicht sich selbst. Der Bruder, der viel zu früh abgehauen ist. . .“
„Der Freund, der sie in ihren Depressionen bestärkt hat?“
Beide schauten nun zu dem frischen Erdhaufen einige Meter vor ihnen.
„War das für dich genug, Tim?“
Sein Gesicht blieb ausdruckslos, während er sich abwandte. „Reicht für heute.“
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