Retter und Feind
Ohne mit den Wimpern zu klimpern, betätige ich den Türknauf, trete ein in die düstere Stadt. Die Stille ist so unausstehlich laut, die Leere der Straßen und der Gebäude zum Platzen überfüllt. Nichts rührt sich, nichts lebt. Nichts außer mein Wille, meine Destination zu erreichen. Nichts außer das, was mich davon abhält.
Ich schaue in die Runde: schlichte Bauten ohne jegliche Fenster mit verschlossenen Türen umzingelt von Betonpflastern. Das einzige, was sie voneinander unterscheidet, sind die Größen und der Aufdruck der antiken Schilder, die knapp über der Tür hängen. Alles, was das Auge umfasst, ist grau. Alles bis auf das höchste Gebäude: Es glüht rot und das nicht ohne Grund. Das habe ich gelernt.
Verächtlich blicke ich auf die Landkarte in Form eines Gehirns und die einzelnen Gebäude darin. Darauf Beschriftungen wie Humor, Eifersucht, Ehrlichkeit, die Liste ist lang. Sie liegt seit langem unberührt da, seit Tag eins. Ich kenne sie in- und auswendig.
Im nächsten Moment haftet mein Blick an der Gefahr, auf die ich nun mit höchster Geschwindigkeit zurase. Wie blind lasse ich meine Füße mich auf eine Zukunft zusteuern, die niemand vorahnen kann. Reflexartig biege ich hin und wieder ab, sehe zu, wie sich die Distanz zwischen der Gefahr und mir verringert. Sekunde für Sekunde.
Die Echos meiner eigenen Schritte geben mir das Tempo vor und mein Puls passt sich meiner immer mehr zunehmenden Geschwindigkeit an. Anhand der steigenden Temperatur weiß ich, dass ich mich der glühenden Gefahr nähere. Einige Schritte davon entfernt, verstecke ich mich hinter einer Mauer, meine Glieder zittern, eine Last breitet sich in mir aus, die meine Kehle zuschnürt. Schmerzen.
Während ich mich versuche zu beruhigen, lese ich das Schild der Baut vor mir: Selbstdisziplin. Kaum hörbar hauche ich das Wort vor mich hin. „Selbst. Disziplin. Das Selbst.“ Erstarrung. Ich bin sowohl Retter als auch Feind meines Selbst. Wie bin ich nie darauf gekommen?
Der Satz wiederholt sich ständig in meinem Kopf, gleichzeitig überflutet mich eine Welle Energie und Entschlossenheit bis in die Fingerspitzen. Wenig später verlassen dieselben Worte meine Lippen. Laut. Lauter. Voller Überzeugung gehe ich auf das Glühende zu. Es nennt sich Angst. Statt mich zu attackieren, wie sie es immer getan haben, scheinen die Bewohner der Baut davon zu fliegen. Immer lauter und lauter kreischen sie dabei, suchen Schutz hinter den dicken Wänden des Gebäudes. Meiner Angst. Meine Ohren schmerzen vom Geschrei der Kreaturen, ich halte sie mit beiden Händen zu und schreie um die Wette mit meinen Feinden.
Ich bin mein Feind. Die Angst gehört mir. Sie ist ein Teil von mir. Das hier ist meine Schlacht, das ist mein Gehirn, meine Seele, meine Person höchstpersönlich. Meine Schlacht gegen mich selbst. Nur ich kann siegen.
Die Angst bebt. Meine Stimme versagt, ich schließe die Augen. Das Beben hört auf, meine Augen öffnen sich. Die Angst ist weg, zerstört. Endlich sehe ich meine Destination vor mir: Das Tor zu Neuland.
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