Richtungswechsel
Viel zu schnell waren die Sommerferien vergangen, fand die 15-jährige Liv, als der Wecker sie am 3. September, um halb 7 am Morgen, aus dem Schlaf aufscheuchte.
Dieser erste Schultag im neuen Schuljahr hatte für Liv denn auch so gar keinen Reiz.
Im letzten Semester dagegen hatte sie sich auf jeden einzelnen Werktag gefreut, sie war oft schon vor dem Läuten des Weckers wach, und in der Schnellbahn zur Schule konnten auch die mieselsüchtigen Gesichter ungewaschener Fahrgäste ihrer Laune nichts anhaben, denn sie freute sich darauf, ihn wiederzusehen: er hieß Jean und war im Sommersemester als Austauschschüler aus Paris in Livs Klasse.
Jean war nicht irgendein Junge. Er war, so stellte Liv täglich aufs Neue fest, ganz anders als ihre übrigen Klassenkameraden - erwachsener schon, viel mehr an den wichtigen Dingen des Lebens interessiert als an den neuesten Videospielen. Unauffällig hatte Liv es bewerkstelligt, neben Jean die Schulbank zu drücken. Sie waren einander vertraut geworden, hatten Spaß mitsammen und nicht nur Livs Französischkenntnisse haben von dieser Bekanntschaft profitiert - durch Jeans Anwesenheit hatte Liv erstmals die Erfahrung gemacht, dass ein Junge ihr mehr bedeutete als alle anderen.
Kurzum, Liv hatte sich erstmals in ihrem Leben verliebt.
Aber Jeans Auslandssemester war vorbei. Er war zurück in Paris und Liv auf dem Weg zur Schule, die plötzlich nichts Anziehendes mehr für sie parat hatte.
Die Fahrgäste in der überfüllten Schnellbahn waren genauso ungepflegt wie immer, aber nun waren sie Liv zutiefst zuwider und sie war froh, endlich am Westbahnhof anzukommen.
Gerade als Liv aus dem Zug stieg, vibrierte ihr Handy und zeigte an, dass eine neue Whats-App-Nachricht gekommen war. Liv verzog sich in eine ruhigere Ecke und begann die Nachricht zu lesen. Es kam ihr vor, als bliebe für einen Moment lang ihr Herz stehen: Jean hatte geschrieben.
Nachdem er sich den ganzen Sommer lang nicht gerührt hatte und Liv schon der Meinung war, ihre Zuneigung und Verliebtheit wären höchst einseitig, las sie jetzt seine Worte auf dem Display: "Liebe Liv", hatte er auf Deutsch geschrieben, "Du fehlst mir. Magst Du zu uns kommen? In meiner Klasse ist Platz für eine Austauschschülerin – neben mir ist ein Sitz frei. Dein Jean "
Liv stand alleine unter all den Reisenden am Westbahnhof und musste sich entscheiden: entweder mit dem 18er zum Wiedner Gürtel in die Schule weiter zu fahren oder Jeans Angebot anzunehmen. Sie blickte auf die Anzeigetafel über ihr, wo in großen Lettern stand: Intercity nach Paris – Abfahrt: zehn Minuten.
Vor die Wahl gestellt: 18er Richtung Schule oder Intercity in die Stadt der Liebe, gab es für Liv nur eine Entscheidung.
Liv hatte ihre Bankomatkarte im Portemonnaie und all ihren Mut zusammen genommen: Sie rief ihre Eltern an und teilte ihnen ihren Entschluss mit.
Schnell war ein Ticket gekauft und Liv saß im Zug Richtung Jean.
In Paris angekommen war der Platz in der Klasse neben Jean tatsächlich noch frei.
Er hatte an seine Liv gedacht.
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