Ringelspiel
Vor mir erstrecken sich die endlosen Weiten der Steppe.
Ich reite auf einem Löwen mit goldenem Fell. Unter seinen Pfoten staubt der trockene Boden zu beiden Seiten auf und wir ziehen eine heiße Wolke aus Sand hinter uns her.
„Endstation! Alle absteigen!“, ruft jemand, aber die Stimme ist leise und sie kann sich kaum gegen das Rascheln der verdorrten Bäume durchsetzen. Doch mein Löwe hat es gehört und er wird langsamer und langsamer und die Steppe verblasst.
Hinter uns taucht ein wieherndes Pferd auf und vor uns ein grauer Elefant. Der Boden wird zu einer kalten Metallplatte und ich bemerke auf einmal, dass wir uns im Kreis bewegen.
Der Löwe ächzt auf und ich will mit der Hand durch seine weiche Mähne fahren – aber das ist plötzlich unmöglich. Mein Löwe ist hart und stählern und nur noch eine Figur.
„Endstation!“
Wo ist die Steppe? Wo mein Löwe?
Ich sitze auf einem Karussell, das nun stehen bleibt. Meine Fahrt ist zu Ende.
Die anderen Kinder, die auf dem Pferd und Elefant saßen, sind längst abgesprungen und fortgelaufen. Je weiter sie sich entfernen, desto größer werden sie.
Ich schließe die Augen und bunte Bilder der Erinnerung flirren an mir vorbei, und Gelächter und Musik. Dann kommt der Schaffner zu mir, der letzten Passagierin, und zwinkert mir aufmunternd zu. Vorsichtig, so dass ich nicht stolpere, rutsche ich von dem Löwen, der auf einmal viel kleiner ist. Zu klein für mich.
Schwer muss ich schlucken, als ich von der Plattform steige und fortgehe.
Hinter mir hat das Karussell wieder Fahrt aufgenommen.
Aber ich schaue nicht zurück.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX
