Rote Iris
Wir befinden uns im ersten Wiener Gemeindebezirk, direkt vor der Station „Rathausplatz / Burgtheater“. Wirft man einen Blick auf das gegenüberliegende Gebäude, so fallen einem sofort die massiven Marmorblöcke daran auf, die – der Schwerkraft trotzend – daran zu schweben scheinen. Die Vorhänge – für gewöhnlich gleich weingetränkter Lider majestätisch herabhängend – sind heute fein säuberlich zurückgebunden und geben den Blick auf einen großen Saal frei, in dessen Mitte ein Pult steht. Es handelt sich um nichts Geringeres als den Festsaal des Wiener Rathauses.
Vor dem Pult geht ein Mann immer wieder auf und ab; sein sonst euphorischer Charakter von der Bedeutung der Angelegenheit merklich beschwert. Der Mann hält Zettel in den Händen, deren Inhalt er nun zum zehnten Male überfliegt. Dann bündelt er die Blätter, schreitet zum Pult, legt die Blätter darauf ab, stellt sich dahinter, testet kurz das Mikrofon und beginnt sodann zu sprechen:
Herr L. (feierlich ins Publikum) : Meine Damen und Herren, es ist mir eine Ehre, Sie im Festsaal des Wiener Rathauses begrüßen zu dürfen, den unser Herr Bürgermeister großzügigerweise für den heutigen Anlass zur Verfügung stellt. Es ist ein feierlicher Anlass, und gerade deshalb freut es mich, dass Sie hier und heute so zahlreich erschienen sind.
Mein Name ist Herr L. , ich bin Präsident der SO – Science Outreach, einer Organisation, die seit 1998 an wesentlichen Forschungsförderungsprojekten beteiligt ist.
Doch nun zum Thema dieses Abends: Wie Sie vielleicht wissen, wurde der Nobelpreis vor einigen Jahren für die Entdeckung von CRISPR/Cas9 verliehen – eine Methode, die uns nicht nur einen tieferen Einblick in jegliche Gene ermöglicht, sondern auch deren Änderung. Dank dieser haben wir nun auch erstmals an der Iris Modifikationen-. . .
Unterdessen im Publikum:
Mannheim (erscheint an den vorderen Publikumsreihen, die er nun Sitz für Sitz abschreitet; ein paar Schritte dahinter sein Assistent Dritter mit einer Lupe) : Geben Sie mal her.
(mit der Lupe ein Stückchen nähertretend, die Augen eines Zuschauers besonders intensiv betrachtend) Mhmh…jaja…soso. Wahrlich eine schöne Farbe-…
Am Pult:
Herr L. : …durchführen können, von denen eine mit siebenhunderthundertfünfundsechzig Nanometern als Wellenlänge…
Im Publikum:
Mannheim: … aber da kann man noch was rausholen.
Sollte ich jemals ein Kind haben, dann werde ich ihm eine blaue Iris schenken. Blau. Klassisch. – Das Klassische ist und bleibt durch den Wandel der Zeit doch stets am schönsten. Aber man kann ja optimierende Änderungen vornehmen, die Originalität unterstreichen: Blau und blau mit dunkelblauen Tupfern. Oder Tiefblau vermengt mit Mitternachtsblau oder Tiefblau oder Eis-…
Hellner (aus dem Publikum, den Kopf leicht schüttelnd) : Werter Mannheim, ich verstehe Ihren Punkt, aber Blau hat zu unserein Zeiten doch etwas an Bedeutung verloren. Denn heutzutage erinnert Blau – gerade mit Modifikationen – an künstliche Schönheit, KI. Da besitzt jeder die gleiche blaue Iris. – Keine Spur von Originalität.
Wie wäre es mit etwas wirklich Extraordinärem wie…sagen wir mal…-Grau!
Mannheim: Grau, grau…-Doch nicht Grau! Im Alter wird doch alles grau. Vom Auge bis zum Nasenhaar. Außerdem erinnert mich die Farbe Grau an Roboterarme, etwas Artifizielles also, das sich in dieser Hinsicht gar nicht von meinem Blau unterscheidet.
Nein, also Grau ist doch wirklich nicht originell.
Hellner: Gut. Wie wäre es stattdessen mit Braun?
Braun wie der Schmelz der Bitterschokolade, getüncht in einen Hauch von goldfließendem Honig. Oder, noch besser:
(voller Inbrunst) Dunkelbraun wie der Schein der immerglühenden Sonne, die in einem Meer aus Espresso versinkt, durch ihren Aufgang kleine Kaffeepulvertüpfelchen-…
Mannheim: Immerglühende Sonne, Kaffeepulvertüpfelchen…-Hellner, jetzt hören Sie mal auf mit Ihren Spinnereien.
Hellner (sichtlich getroffen) : Spinnereien?
Mannheim (den Kopf schüttelnd wie der enttäuschte Vater über eine Dummheit seines Kindes) : Braun…Welcher Mensch kommt denn auf eine solche Idee? Der vernunftbegabte sicherlich nicht.
Hellner (noch nicht bereit, den inflammatorischen Stich der Kränkung in seinem Innersten auszubreiten) : Mannheim, ich sage: bringen wir doch dem Herrn Direktor eine Probe mit. Dann kann er ja entscheiden, welche der beiden-…
Mannheim: Sie wollen Herrn L. eine braun gematschte Iris mitbringen? Da wird sich dem Direktor ja der Magen umdrehen.
Dritter: Ich will mich ja nur allzu ungern in Ihre privaten Angelegenheiten und noch unfreiwilliger in Ihren persönlichen Disput einmischen, aber: Haben Sie schon einmal über Rot-…
Hellner (dem die Worte Mannheims wahrlich zu Kopfe gestiegen sind) : Rot? Haben Sie was gegen meinen Kopf?
Dritter (unbeirrt fortführend) : …-nachgedacht? Eine Farbe, die weder der Ihrigen (auf Mannheim deutend), noch der Ihrigen (auf Hellner zeigend) entspricht?
Rot: Außergewöhnlich. Originell. Extraordinär. – Das waren Ihre Worte.
Mannheim (eine Weile nachdenkend, dann) : Hmhm…jaja…soso… -Hellner, was halten Sie davon?
Hellner (bereits in tiefste Schwärmerei versunken) : Wenn wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. –Oh! Ein Blick in dein Rot nur genügt, um des einen Feuer auf den andern überspringen zu lassen. Glühend und lodernd, ein einzig verzehrender Brand! Rot!
(in seinen Stuhl zurücksinkend und sich sodann voller Demut an die Brust greifend) -Wie die Liebe.
Am Pult:
Herr L. : … unser Forscherherz hat höherschlagen lassen, denn:
„Iris rubeia“ – zu Deutsch: rote Iris beziehungsweise Schwertlilie – enthält im Gegensatz zu allen anderen bisher bekannten Arten einen Wirkstoff, den wir gemäß des Gattungsnamens „Rubein“ getauft haben. Speziell handelt es sich bei Rubein um einen Stoff, der an den Rezeptor der Nervenzellen bindet und vor übermäßigem Ableben der Zelle schützt. Das Potenzial für Rubein als Behandlungsmittel für neurodegenerative Krankheiten – darunter Alzheimer, multiple Sklerose und Parkinson – wird gerade erforscht.
Im Publikum:
Dritter: Genau. Und um dem Ganzen noch Geschmack zu verleihen: Rot, vermengt mit neongrünen Tüppellchen.
Hellner: Kaffeepulvertüpfelchen.
Dritter: Genau, Kaffeepuffertülpchen-…
Hellner (jede einzelne Silbe eindringlich und fast knurrend betonend) : Kaffee-pulver-tüpfel-chen!
Am Pult:
Herr L. : Sie sehen: Bei uns steht Verantwortung an erster Stelle, denn…
Im Publikum:
Mannheim (beschwichtigend): Neongrün? Meine sehr verehrten Herrschaften, belassen wir das Ganze doch lieber einfach bei…
Am Pult:
Herr L. (mit feierlicher Stimme) : … Iris rubeia gestaltet Ihre und meine Zukunft.
Im Publikum:
Mannheim: … schwarz.
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