Roter Asphalt
Ein neuer Tag. Sie rollt sich aus dem Bett, schleppt sich zu dem Spiegel im Badezimmer. Er ist bedeckt von Zahnpastaflecken und Wassertropfen, die nach dem Verdunsten einen verkrusteten Umriss hinterlassen haben. Mit einem Quietschen des Wasserhahns sprudelt immer kälter werdendes Wasser hervor. Es wird von Händen eingefangen und in das Gesicht geworfen. Der Aufprall von Kälte auf warmer Haut erfrischt, erschreckt. Geschlossene Augen sehen den Traum der vergangenen Nacht.
Sie steht in einer schmalen Seitengasse, an beiden Seiten sind hohe Ziegelwände. Rot. Vor ihr zwei Menschen, beide in Schwarz. Sie kämpfen: Fäuste trafen jede Sekunde auf Niere, Magen oder Leber: dort wo es weich ist. Ihr Körper ist gefroren. Die Augen stehen auf ewig offen. Deshalb sieht sie auch das Aufblitzen von Silber in einem Gewühl von Dunkelheit. Das Messer drängt sich durch die Schichten von Haut und Stoff. Blut rollt reibungslos von dem Körper auf die Klinge. Seine Augen richten sich auf ihr Gesicht. Rot.
Ein neuer Tag. Sie setzt sich auf und blickt durch das Fenster auf die Stadt hinab. Unzählige Glasscheiben glitzern in der Morgensonne. Blitzen auf wie die Klinge. Wieder der gleiche Traum. Hände wühlen durch die Haare, verkrampfen sich in der Bettdecke. Hände drücken sich in den Bauch hinein, er ist so weich. In der Arbeit aus der Schwärze des Monitors hinaus starren ihr Augen entgegen, ewig offen.
Die Straße, auf der sie geht, ist asphaltiert. Grau. Manchmal sieht sie einen Fleck grüner Natur. Wohnhäuser, Büros, Geschäfte. Schöne Gebäude mit verschnörkelten Fassaden in Weiß oder Gelb. Doch unter all den Farben suchen ihre Augen immer nach dem Rot. Nach dem rinnenden, roten Blut. Nach den hohen roten Ziegelwänden. Manchmal rückt etwas in einer ähnlichen Farbe in ihr Blickfeld, aber es ist nie das gleiche. Es ist nie das gleiche.
Ein neuer Tag. Sie bleibt liegen. Die Decke ist so weiß, aber nicht rot. Nichts ist rot. Sie bricht auf, farblos angezogen, alles andere erinnert nur an die Farbe, die unerreichbar ist. Die Suche nach dem Rot führt sie zurück in das Viertel, in dem sie aufgewachsen ist. Hier stehen eng an eng unzählige Backsteingebäude und zwischen ihnen ziehen sich die Seitengassen. Alles ist ineinander verästelt und verzweigt, es gibt Gassen, in die sich schon jahrelang niemand mehr verlaufen hat. Es wird immer röter. Die Sonne glüht schon, fast verschluckt von der anderen Erdhälfte. Und sie steht in der schmalen Seitengasse.
Dort sind auch die Augen. Schwarz gekleidet ist ihr Gegenüber, nur Schritte entfernt. Sie gräbt ihre Faust in seinen weichen Magen, in die Niere. Seine Faust fliegt ihr sofort entgegen, in die Leber. Ihr Herz hämmert und ihre Beine zittern und eines ihrer Augen sieht kaum mehr etwas. Es ist rötlich. Das Silber blitzt auf, inmitten der Dunkelheit. Das Blut rinnt über ihre Hände. An ihrer Haut rollen die Tropfen herab und hinterlassen eine Spur von Rot.
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