Roter Nagellack
17. Oktober
Dichter Nebel verschluckte die junge Frau, welche das Haar aus dem zerzausten Zopf löste und es sich frierend um den bloßen Hals schlang. Die Schultern hochgezogen, den Blick gesenkt, hastete sie an der Kapelle vorbei.
Ihre hektische Atmung mischte sich unter den Gesang, der so wehklagend aus der Kapelle waberte, als hätten die grämenden Stimmen den Tod selbst in ihre feingestrickten Melodien gewebt. Die Stimmen legten sich schwer über den Friedhof, rüttelten an den Gemütern, wühlten in der verdorrten Erde und zerrten fordernd an den Balken der Holzkreuze, welche lieblos ins Gras geschlagen waren.
„Was tue ich?“, hauchte die junge Frau, den lauernden Atem des Todes in ihrem Nacken spürend. Warm flüsterte er ihr zu, unwohl wand sie sich unter seiner Fürsorge. Sie bohrte die roten Fingernägel in ihre Handflächen, kratzte den Lack verbissen von den gefeilten Nägeln.
Geleitet von dem Grauen in ihrem Nacken, stockte ihr irrender Blick vor einer unscheinbaren Ruhestätte. Das kleine Kreuz, verwittert, die billige Kerze, abgebrannt, die verschnörkelte Inschrift, schmutzbehaftet. Daneben, mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass sie dessen Daliegen nicht zu hinterfragen wagte, lag es. Ihr Grab.
18. Oktober
Der Tod wachte über die junge Frau, welche kniehoch in ihrem eigenen Grab stand und sich die Haarsträhnen aus dem verschwitzten Gesicht strich. Seine Vertrautheit leistete ihr stillschweigend Gesellschaft, nistete sich wohlig in ihr ein und wärmte sie bis auf die schmerzenden Knochen.
Behutsam glitten ihre Fingerkuppen über das morsche Holz des Totenschreins, rau scheuerten die Furchen der Maserung an ihren entblößten Fingern. Die junge Frau sog scharf die Luft ein, ihr Atem stieg schlierig auf, verschmolz mit der nebelbehafteten Nachtluft und entfaltete sich als vollumfängliches Nichts. Ihr Zeigefinger verfing sich in einem Scharnier, der Nagel riss ein.
„Was tue ich?“, hauchte die junge Frau bestürzt in die Nachtluft. Die tauben Finger zerrten an den eisernen Bindegliedern, verirrten sich an grob geschliffenem Metall und stießen unter Pein den Totenschrein auf, welcher einen beinahe kindlichen Körper offenbarte. Die junge Frau schluckte schwer.
Das lange Haar war schützend um den verrenkten Hals geschlungen, so wie der Tod die Leiche selbst umrankt und schonend mit sich getragen hatte. Der Tod, dessen vorfreudige Atmung sie in mildes Unbehagen versetzte, der Tod, welcher sich im Glanz des Mondes - der sein kraterbesetztes Gesicht besorgt verzogen hatte - schattenhaft über ihr auftürmte; der Tod, dessen sehnige Finger auf die rot lackierten Nägel der Leiche verwiesen.
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