Ruhe bewahren
Raschelnd bewegt sich der Räuber durch die hohe Wiese. Ich kann es hören, wie seine Pranken die Grashalme falten und zu Boden drücken. Schritt für Schritt nähert er sich. Noch ist er weit weg, ich kann ihn nicht sehen, er hält sich bedeckt im dichten Forst. Ich schaue zu den anderen. Sie alle können es nicht hören und sie blicken nicht in das ferne Gras, sie halten die Augen geschlossen, während sie auf einzelnen Halmen kauen. Ich würde fast meinen, sie würden es genießen, aber sie alle sind von einer Unruhe gepackt, einer Angst. Denn sie können ihn weder hören noch sehen, sie wissen jedoch, dass er dort lauert und kriecht. Wenn der Jäger auf sie zuspringt, müssen sie laufen. Und ich lausche dem Knacken der Halme und dem Knirschen der Erde.
Jetzt ist er schon näher. Sollen wir laufen? Wie weit ist er weg? Angestrengt durchleuchte ich die Umgebung. Es kommt ihm gelegen, dass meine Herde am Fuße eines Hügels grast. Ich mache mich bereit zu schreien und zu rennen. Aber der Räuber ist noch fern genug, ich kann ihn immer noch nicht sehen. Als ich den Kopf senke und einen Halm schnappen will, raschelt es wieder. Kann ich ihn sehen? Mir stockt der Atem, sein glänzendes Fell schimmert im Sonnenlicht. Er ist da, er ist da! Meine Muskeln zucken, bereit zur Flucht. Ruhe bewahren. Innere Ruhe ist dringend notwendig.
Ein furchtbar lautes Zerbrechen erschallt. Das hat auch die Herde gehört. Panisch scharen sich ihre Hufe in die trockene Erde, hasten los. Jetzt hat auch er keine Wahl mehr. Die anderen fliehen hektisch, aber ich bleibe noch stehen.
„He, du!“, schreit Einer.
Nur einen Augenblick bin ich stehengeblieben. Nur ganz kurz konnte ich die majestätische Raubkatze sehen. Dunkle Muster auf dem schimmernden Fell, das den langen Körper überzieht. Zu lange habe ich Ruhe bewahrt, die Krallen greifen fast meinen Körper.
„Jetzt lauf schon!“, ruft wieder der Eine.
Ich stolpere los und renne, so schnell ich kann. Trotzdem spüre ich noch den heißen Atem des ausgehungerten Jägers. Schritt, Schritt, Schritt. Ruhe, sonst stolpere ich. Um mich herum herrscht eine reißende Schnelle, innen zieht sich jede Bewegung lang. Bald wird er mich einholen, also folgen meine Schritte rascher aufeinander. Meine Beine graben sich tief in den Boden, holen viel Kraft und drücken sich, wie im Sprung, ab. Die Katze hinter mir tut es nicht anders. Sie holt aus und macht einen Satz nach vorne. Wer hält es länger aus? Ich oder der Räuber? Ich will nicht denken, nur laufen.
Mir fällt das Atmen schon schwer, die Beine ziehen meinen Körper nach unten. Durch den Schmerz hindurch laufe ich, drücke fest die Augen zusammen. Nur noch ein müdes Hecheln hinter mir, die Schritte werden immer dumpfer. Bis ich schon weit weg bin und den Jäger nicht mehr sehe. Kraftlos lausche ich, bis ich weiß, was die anderen schon lange wissen: Weg ist er. Während ich um Luft ringe, zerkauen sie schon wieder Halme. Sie konnten ihn weder hören, noch sehen, aber sie haben von ihm gewusst.
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