Schattengräber
Ich sitze hier. Das Wasser rauscht. Zehntausend Tropfen springen in es hernieder. Zwischen den raschelnden Baumkronen zwitschern die Vögel, über die bunten Blumen legt sich der Schleier düsterer Wolken und über die verdreckten Pflastersteine stolpern die verlorenen Menschen. Wenn ich mir von hier diese wandelnden Gestalten betrachte, dann wirken sie wie nichts als zu Körpern gewachsene Schatten. Hals über Kopf in einer kopfstehenden Welt. Taumelnd nur ins verdrehte Gesellschaftsdasein. Kopfstand auf dem Fundament der Aufklärung. Wir Menschen sind recht komische Wesen. Das Kopfstehen scheint uns zu bekannt, wir wissen gar nicht mehr darum. Der Zufall unser größter Feind. Naiv versuchen wir, uns die Natur Untertan zu machen und unterwerfen in erster Linie doch nur uns selbst. Wir meinen, die Vergänglichkeit lahmzulegen. Wir träumen von Unendlichkeit. Aber warum nach Unendlichkeit streben, wenn uns das Sein ängstigen muss? Die Schattenexistenz als leere Hülle einer nur potenziell vollkommenen Person. Wir bleiben banal. Ob unendlich oder nicht. . . wer will in einer Welt für immer über die Stolpersteine einer überheblichen Menschheit fallen? Um dann kopfüber im Morast der Unvergänglichkeit stecken zu bleiben? Wir Menschen fürchten uns. . . fürchten uns so sehr. . . vor den simplen Wahrheiten.
Ich sehe sie vorbeiziehen. Ein kleines Kind auf seinem Laufrad. Unwissend und selig. Eine Gruppe Jugendlicher mit ihrem erschlichenen Alkohol. Unwissend und sündig. Ein Studierender mit vielen Büchern. Unwissend und suchend. Eine Gruppe Feiernder, noch torkelnd vor Genuss. Unwissend und aufgegeben. Eine junge Familie, ganz zufrieden Händchen haltend. Unwissend und glücklich. Ein Rentnerpaar mit grauen Haaren. Unwissend und langsam sterbend. Keiner scheint sie zu bemerken, die riesigen Tunnel im Boden. Oder vielleicht will auch keiner.
Wir kommen aus dem Nichts ins Chaos, bis wir wieder ins Nichts vergehen. Und die Glücklichsten von uns bleiben unwissend ihr Leben lang. Denn wenn man kopfüber in einer kopfstehenden Welt irrt, dann wirkt diese Welt doch scheinbar richtig. Doch diejenigen, die jenes Kopfstehen bemerken, zerbrechen am Versuch, die Tunnel zur anderen Seite zu schlagen. Philosophie ist das einsame, verzweifelte Graben durch den Boden einer kopfstehenden Schattenwelt in die lichtgeflutete Realität der anderen Seite.
Ich sitze hier. Die Schaufel in der Hand. Ich zweifle noch. Soll ich graben? Die größten Denker scheiterten allesamt. Wie soll ich es dann schaffen? Und doch, ich fühle die Regung. Denn so oder so, wir alle sterben. Ich für meinen Teil in diesem Bewusstsein: Der Tod soll mich allein auf dem Weg zur Erkenntnis ereilen. Und wer weiß, möglicherweise ist er auch das Ziel, die einzige Wahrheit. . . für die Schatten Hals über Kopf in einer kopfstehenden Welt.
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