Schlangengift
Sie kam direkt nach den Sommerferien. Unser Klassenlehrer hatte sie im Sekretariat abgeholt, mit zu uns in den Unterricht genommen und sie uns vorgestellt. Sie ist anders, anders als wir. Beim Schreiben hängen ihre langen schwarzen Haare immer wie ein Vorhang über ihr Gesicht, ein Vorhang der alles verdeckt und verdunkelt. Sie sagt nicht viel zu uns, sondern beteiligt sich immer nur am Unterricht, ihre mündliche und schriftliche Arbeit ist sehr gut. Diese Schlangen sprechen immer wieder über sie. Zischeln boshafte Worte hinter ihrem Rücken und vor ihren Augen.
Während ich vor dem Klassenraum Vokabeln lerne bekomme ich das oft mit. Es kümmert sie reichlich wenig, sie lässt es einfach über sich ergehen. Vor einem Monat bekamen wir eine Arbeit zurück. Sie hatte die volle Punktzahl. Unsere Mathelehrerin war sehr stolz, während die Schlangen nur ihre Giftzähne zeigten.
Sie scheint oft alles um sich zu vergessen, ihre schokoladenfarbigen Augen starren meist verträumt in den Himmel. Es lässt sie das Zischeln, der Schlangen, was sich in letzter Zeit verschlimmert hat, vergessen. Nur hilft Vergessen leider nicht, über etwas hinweg zukommen. In den Pausen steht sie allein in einer Ecke oder versucht ihr Brot hastig zu essen, bevor es von den anderen geklaut wird.
Ihr Schultag zieht sich langsam dahin. Meiner verfliegt, ich schwebe richtig durch mein Leben. Ihr Gang ist schleppend, sie zieht sich langsam durch ihr Leben. Eine graue Wolke aus Schmerz als ihr Begleiter, ein Regen aus Trauer der sie durchnässt.
Vor zwei Wochen hat ihre Freundin Schluss gemacht. Das war ein Futter, auf das sich die Schlangen gierig gestürzt haben. Offenbar machte es auf WhatsApp die Runde und verbreitete sich so an der Schule. An diesem Tag verlief ihre schwarze Schminke in dunklen Flüssen über ihr Gesicht, als sie in der Mädchentoilette stand und weinte. Die Schlangen bissen ohne zu Zögern zu, hinterließen giftige Male, die sich in ihre Seele brannten. Sie ging weiter, ließ das Gift in sich brennen. Das Zischen wurde immer lauter, es verfolgt sie wohin sie sich auf bewegte.
Montags verschwand ihr Turnbeutel.
Dienstags verfolgte sie zerstreut den Unterricht.
Mittwoch ertrank in Tränen.
Donnerstags wirkte das Gift langsam.
Freitags stehe ich hier und beobachte, wie ein paar Schlangen sie schikanierte. Die anderen kümmert das nicht. Sie gleiten weiter durch ihr graues, eintöniges Leben. Ich sehe hinüber, meine Wangen werden rot und mein Herz pulsierte immer schneller. Ich sehe weg, gehe schließlich. Mein Körper wirft seinen Schatten auf den dreckigen Boden, als ich nervös weitergehe, meine Hand zieht die Schulter eines Jungen wütend zurück.
„Genug!“
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