Schnappschuss
Strahlendblauer Himmel. Die Sonne scheint. Eine Brücke. Alt. Aber schön. Ich. Und meine Freunde. Unter der Brücke. Der Fluss ist verschwunden. Schon lange. Mein bester Freund. Ein Handy in seiner Hand. Es ist auf mich gerichtet. Blitz. Foto. Andere Position. Blitz. Foto. Immer wieder. Immer anders. Ich erinnere mich an jedes Detail. Als wäre alles Teil eines einzigen Fotos, das in mein Gedächtnis eingebrannt wurde. Auf diese Erinnerung folgen viele Erinnerungen. Wie im Zeitraffer. Keine Details. Auf den Fotos sind sie abgebildet. Aber aus meinem Gedächtnis sind sie verschwunden.
Sie wollen alles wissen. Hunderttausend Fragen. Sie kennen jede meiner Erinnerungen. Sie haben mich gefragt. Oft. Ich ertrage die Fragen nicht mehr. Diese ständigen Fragen. Aber bald muss ich sie nicht mehr ertragen. Denn bald bin ich weg. Zu Hause. Weg vom Krankenhaus. Und von den Ärzten. Die nichts Neues herausfinden. Obwohl sie den ganzen Tag fragen. Aber es bringt nichts. Sie wissen alles. Nur nicht das Warum. Sie vermuten es nur.
Heute werde ich abgeholt. Von Menschen, die ich kenne, aber doch nicht kenne. Ich weiß, wer sie sind. Meine Eltern. Aber ich erkenne sie nicht. Sie sind wie Fremde. Ihre Stimmen. Vertraut. Ihre Gesichter. Unbekannt. Die Frau redet mit den Ärzten. Medikamente ist alles, was ich höre. Der Arzt schüttelt den Kopf. Medikamente helfen mir nicht. Das, was ich habe, kann man nicht heilen. Der Mann, der mein Vater ist, redet mit mir. Ob es mir gut gehe. Natürlich. Mir fehlt nichts. Ich bin nur leicht verletzt. Eine Wunde am Kopf. Nichts Tragisches.
Sie verabschieden sich von den Ärzten. Ich gehe mit ihnen. Richtung Ausgang. Jemand geht an mir vorbei. Schaut mich an. Direkt in die Augen. Jemand mit einem Verband am Kopf. Ich schätze, das bin ich. Denn dieser Jemand ist ein Spiegelbild. Und niemand in meiner Nähe hat einen Verband. Wir kommen nach draußen. Es ist warm. Und schön. Wie an jenem Tag. Dem Tag, der mein Leben verändert hat.
Wegen ein paar Fotos wurde mein Leben auf den Kopf gestellt. Die Fotos sind nicht schuld. Natürlich nicht. Aber das, was in diesem Moment passiert ist. Die Brücke. Alt. Ich. Darunter. Ein Stein. Von der Brücke. Kein Halt. Erdanziehungskraft. Der Stein fällt. Aber er trifft nicht auf den Boden. Sondern auf meinen Kopf.
Ich bin nicht gestorben. Ich erinnere mich an alles. Ich bin gesund. Nur eine Narbe wird bleiben. Lüge. Ich habe etwas vergessen. Gesichter. Ich weiß nie, mit wem ich rede. Ich kenne die Menschen. Weiß, wer sie sind. Aber ihre Gesichter kenne ich nicht. Ich bin blind. Aber meine Augen sehen. Sie erkennen nicht.
Die Narbe ist das einzige was bleibt. Aber weil ich sie bekommen habe, musste ich etwas anderes hergeben. Die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen. Ich weiß nicht, zu wem welches Gesicht gehört. Ich erinnere mich an kein einziges. Ich bin blind. Gesichtsblind. Und ich werde es für immer bleiben. Ich werde mich daran gewöhnen. Ich muss. Ich muss mit diesem neuen Leben fertigwerden.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX
