Schnee von Morgenvon Theresa Schmerold
Ich schaue dich durch die Henkel einer Handtasche an. Schon die ganze Busfahrt lang hast du mich auf dich aufmerksam gemacht, dezent, aber dennoch nachdrücklich. Du bist ganz verhüllt in einen weißen Wintermantel und Schal. Du siehst mich nicht an, aber ich sehe jedes Mal, wenn ich meinen Kopf zum Fenster drehe, eine Bewegung aus deiner Richtung in meinem Augenwinkel. Du starrst mich an, doch ich erwische dich nicht dabei. Die Dame, die meine Sicht auf dich versperrt hat, steht auf und stellt sich an die Tür. Ich blicke schnell zu dir und sehe gerade noch deinen Kopf nach links zucken. Ich drehe mich wieder Richtung Fenster. Ich trage auch Mantel und Mütze, und zum dritten Mal heute fängt es an, in dicken Flocken zu schneien. In weißen Streifen fliegt der Schnee an meinem Fenster vorbei oder sammelt sich vorn an der Windschutzscheibe als eine vom Scheibenwischer zurückgedrängte weiße Masse, die letztendlich auf der nassen Straße zu Schneematsch wird. Ich beobachte diesen Vorgang eine Weile, bis meine Haltestelle aufgerufen wird, und stehe auf. Ich werfe einen letzten Blick auf dich und trete dann nach draußen, wo mir der kalte Wind ins Gesicht fährt.
Als ich dich wiedersehe, etwa eine Woche später, siehst du anders aus. Es liegt vielleicht am kalten Licht der Neonröhren im Supermarkt, aber du siehst größer und selbstbewusster aus. Trotzdem hast du dich wenig verändert, der weiße Mantel und der Schal sind noch dieselben. Du folgst mir scheinbar zufällig durch die Gänge, dein Einkaufswagen bleibt leer, dein Blick ruht auf mir. Ich bezahle, wünsche der Kassiererin einen schönen Tag und spüre deinen Blick im Nacken. Du folgst mir über den Parkplatz hinweg, und obwohl ich keine Angst vor dir habe, gehe ich schneller. Als ich ins Auto steige und nach Hause fahre, bleibst du allein am schneeverkrusteten Parkplatz stehen, abgehängt.
Der nächste Tag ist kälter. Schnee und Wind schlagen gegen mein Fenster, und ich friere, während ich mir die Decke enger um den Körper schlinge und Tee schlürfe. Er ist fad, aber warm. Meine klammen Füße sind in Wollsocken begraben und am Herd köchelt eine Bolognese-Soße. Als ich von meiner Lektüre aufsehe, kann ich eine Bewegung im Schneesturm ausmachen. Kaum wahrnehmbar regt sich ein Schatten zwischen den Bäumen, verdeckt vom Wirren der Flocken. Ich weiß, dass du es bist. Ich bin mir sicher, dass du da draußen in meinem Garten umherstreifst und darauf wartest, hereingelassen zu werden. Aus einem jähen Gefühl der Resignation heraus ziehe ich die Decke von Armen und Beinen, die sofort von der kalten Luft empfangen werden, und stelle meine Tasse neben mein Buch auf das Wohnzimmertischchen. Zähneklappernd schlüpfe ich in meine Stiefel und will in den Garten stapfen, aber du stehst schon vor der Tür, ernster und näher als je zuvor, und trittst ungebeten ein.
Du bist seit zwei Tagen hier, isst nicht, trinkst nicht, schläfst nicht, frierst nicht. Dafür friere ich für uns beide. Deine Anwesenheit füllt den Raum, du schießt deine Blicke in die Luft wie die Stille, die sich immer mehr zwischen uns ausbreitet. Beides richtet sich an mich, und beides ist nicht auszuhalten. Du scheinst wieder gewachsen zu sein, reichst an die Zimmerdecke, drückst von innen an die Fenster, hinter denen immer noch der Schneesturm tobt. Du nimmst mir Raum, du nimmst mir die Luft zum Atmen. "Lass mich allein. " Ich durchbreche die tagelange Stille und deine Blicke. "Ich kann nicht mehr. Lass mich in Ruhe", sage ich. "Ich kann nicht", sagst du, "Ich bin hier, weil ich kommen musste, und du hattest Zeit, dich auf mich vorzubereiten. " Tränen laufen über meine Wangen, gefrieren, während sie mir vom Kinn tropfen und zersplittern am Boden zu kleinen Kristallen. "Ich bin nicht bereit", schluchze ich, "komm ein anderes Mal, ich bin noch nicht bereit für dich, bitte", doch du schüttelst nur mitleidlos den Kopf. Kristalle splittern am Boden und ich kauere mich weinend zu einer Kugel zusammen, als du auf mich einstürzt.
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