Schnee
Als ich aufwache, ist der Himmel weiß.
Bin ich tot? , will ich fragen, aber mein Mund lässt sich nicht öffnen. Dass ich einen Mund habe – unverkennbar fühle ich doch die leichte Berührung meiner Lippen aufeinander und das träge Gewicht der Zunge – scheint mir ein Zeichen zu sein, dass ich nicht tot bin. Aber vielleicht habe ich mir das alles auch nur falsch vorgestellt: Aus einem mir jetzt unerfindlichen Grund habe ich immer an so etwas wie eine schmerzfreie Lichtwelt ohne Körper geglaubt. Jetzt merke ich aber, dass ich – wenn auch seltsam fern und dumpf – doch irgendwo Schmerzen fühle. Ruckartige, hohle Schmerzen, die in meinem linken Oberschenkel (oder wo dieser sein muss) beginnen und durch meinen ganzen Körper zu strahlen scheinen. Ich will hinsehen, will mich vergewissern, dass ich so etwas tatsächlich noch habe (einen Körper), aber irgendetwas hindert meinen Hals. Mit Mühe bewege ich meine Augäpfel nach links und rechts, so weit ich kann – spitze Kopfschmerzen flackern in mir auf. Was ich erkennen kann, ist alles weiß, aber an manchen Stellen gibt es Unterschiede: mal ist das Weiß porös wie Schnee, dann glatt, ganz links besonders hell und weiter rechts ein wenig schattig. Mein Gehirn braucht einen Moment, ehe mir klar wird, dass ich mich in einem sehr weißen Zimmer befinden muss. Und mit jedem flachen Atemzug nimmt die Vorstellung deutlichere Züge in mir an, dass ich wohl noch am Leben bin.
Aber was ist geschehen? Ich schließe die Augen und versuche, nachzufühlen, aber es ist, als klaffe in meinem Gehirn eine Wunde. Ganz unzusammenhängend schwimmen Bilder aus meinem Inneren an die Oberfläche, von denen ich nicht weiß, ob oder wann sie so passiert sind: ein breites, warmes Lächeln, das – glaube ich – meiner Schwester gehört, ein Gesicht ganz nah an meinem, ein Kleinkind (wessen Kind? ) auf meinem unsicheren Arm, ein verzerrter Mund, der mich spuckend anschreit, eine verschwomene Autofahrt bei Nacht.
Da ist eine zittrige Enge in meinen Augen. Ich halte sie geschlossen. Das alles ist aus irgendeinem Grund furchtbar anstrengend. Etwas bewegt sich in Richtung meines linken Ohrs. Oh, eine Träne ist das. Ich will hier nicht sein – dieser Gedanke presst sich auf einmal zwischen mich und alle Erinnerungen, die nach und nach ihren Weg zu mir finden wollen.
In diesem Moment höre ich das Klacken einer Tür, die geschlossen wird. Ich blicke weiter auf die Innenseite meiner Augenlider. Jemand berührt mich an der Schulter. Dann ist da eine schwingende, weibliche Stimme: „Guten Morgen, Frau Stadler.“
Ich öffne widerwillig die Augen. Am rechten Rand meines Blickfeldes ist das braungebrannte Gesicht einer Frau mit dunklem Pferdeschwanz.
„Ich hole gleich den Stationsarzt. Wie es aussieht, hatten Sie großes Glück.“
Sobald sie Anstalten macht, meinen Blutdruck zu messen oder etwas Derartiges, schließe ich die Augen. Da erhebt sich wieder die Straße vor mir. Der rasende Mittelstreifen. Die bebende Freiheit in der Brust. Der stämmige Baum am Straßenrand.
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