Schneekugel - Automatvon Elisabeth Kugler
Schnee fällt leise immer schneller. Jemand schreit.
Ihre Haut glänzt matt im fahlen Schein des Vollmondes, der die Landschaft in ein Silbergrau taucht. Das nasse weiße Nachthemd schmiegt sich sanft an ihren zarten Körper und lassen sie das Gefühl von Händen auf der Haut oder durchs Haar streichende Finger vermissen. Ihre Haltung ist verkrampft und sie hat die bloßen Füße behutsam auf dem kühlen Glas platziert, die Knie sind angewinkelt. Die einzig wahrzunehmende Bewegung ist das leichte Zittern ihrer kleinen Hände, die eifrig auf einen Bildschirm tippen. Mit den leeren, eingefallenen Augen fixiert sie das Gerät, das sie mit Fingern umklammert hält. Würde sie ihren Blick nur für eine Sekunde abwenden, könnte sie sehen, dass sie nicht die einzige ist, die in einer Kugel aus Glas sitzt.
Jemand schreit. Es wird lauter.
Sie spitzt ihre Ohren, den Blick weiterhin starr auf ihre Hände gerichtet. Es läuft nicht wie es soll, so viel ist klar. Jemand tanzt aus der Reihe. Die Routine ist unterbrochen. Konzentriert hält sie in der Position inne und versucht Gedanken keinen freien Lauf zu lassen. Sie wissen was in deinem Kopf vor sich geht, mahnt sie sich selbst.
Es wird lauter. Ein energisches Klopfen.
Sie kann nicht mehr länger ruhig bleiben. Die aber gleiche Prozedur wieder und immer wieder. Diesmal nicht, sagt sie sich. Diesmal ist sie vorbereitet. Kurz spannt sich der gesamte Körper an, dann springt sie auf. Ihr Blick schweift suchend umher. Vergeblich. Die hektischen Bewegungen ihrer am Glas tastenden Hände bringen das Gerät zu Fall. Ein Haufen Splitter zu ihren Füßen. Sie sinkt zu Boden und eine Welle der Panik überrollt sie. Das ist das Ende. Nur ein leises Wimmern unterbricht die temporäre Stille und als der Moment der Verzweiflung vergeht, weiten sich ihre Augen. Ihre Kinnlade kippt nach unten. Dass sie daran nicht schon früher gedacht hatte, die Verbindung zwischen Gerät und Glaskugel. Alles in Scherben. Ein Begriff schnellt ihr durch den Kopf, den sie mal gelernt hat: Freiheit. Zum ersten Mal füllen sich ihre Lungen mit Luft. Organe führen ihre Funktion aus. Die Erde bewegt sich langsam weiter.
Ein energisches Klopfen, längst verhallt. Das fremde Mädchen tritt in ihren Blickwinkel.
Es ist ein Abbild ihrer selbst und ihre Körper verschmelzen zu einer innigen Umarmung. Sobald sie sich an den Händen genommen haben, bewegen sie sich mit einer Leichtigkeit durch die dicke Schneedecke. Immer schneller setzen sie einen Schritt vor den anderen. Kaum haben sie eine Richtung eingeschlagen, weiß sie was zu tun ist, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Der Anflug eines Grinsens huscht über ihr zartes Gesicht. Es gibt doch einen Sinn. So lange hat sie gewartet, so lange zugeschaut. Der Brustkorb hebt und senkt sich. Nur noch bis zum Waldrand an den anderen Glaskugeln vorbei, dann haben sie es geschafft. Dann sind sie fürs erste in Sicherheit. Schritte abgedämpft vom Schnee, lassen das ganze in Stille passieren. Je länger sie draußen sind, desto mehr wird ihre Neugierde geweckt und der konstant fallende Schnee zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es ist ruhig, wieso nicht kurz stehen bleiben? Mit der freien Hand fängt sie eine Schneeflocke. Fasziniert beobachtet sie, wie die Flocke schmilzt und ihren Handrücken entlang rinnt. Sie strauchelt. Die beiden Hände werden auseinandergerissen. Die Schritte des Mädchens entfernen sich. Es hat genug für sie getan. Jetzt ist sie auf sich selbst gestellt. Noch bevor sie versucht sich aufzurappeln, wird sie in die Luft gehoben. Ein markdurchdringender Schrei. Ihre Muskeln erschlaffen und alles fällt in sich zusammen.
Leise rieselt der Schnee.
Sie schlägt die Augen auf und ihr Körper ist auf Glas gebettet. Ein neuer Tag bricht an. Zufrieden richtet sie sich auf und greift nach dem Gerät neben ihr. Routine. Wie lange sie wohl geschlafen hat? Und warum ihr Hemd nass ist? Die Gedanken strengen an.
Schnee fällt leise immer schneller. Jemand schreit.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:




















Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX