„Schneller, schneller“
„Schneller, schneller“, rufe ich meiner kleinen Schwester durch den Lärm der Bombenwarnung zu.
Ich denke zurück.
„Schneller, schneller“, lacht meine kleine Schwester, als ich sie auf der Schaukel antauche.
„Schneller, schneller“, ruft meine kleine Schwester mir beim Gokart fahren zu.
„Schneller, schneller“, höre ich meine kleine Schwester bei meinem ersten Lauf schreien.
Ich laufe schneller. Die Erinnerungen in meinem Kopf geben mir Kraft. Ich nehme meine kleine Schwester an der Hand. „Tempo, kleine Schnecke“, flüstere ich ihr in der Hoffnung auf ein Lachen ihrerseits zu. Doch als ich sie anschaue, sehe ich eine Leere in ihrem Blick, die mich zutiefst erschüttert. Ich wende mich von meiner Schwester ab und nehme meine Umgebung zum ersten Mal heute bewusst war. Hektik. Panik. Menschen, die schreien und weinen.
Zwei Monate später.
„Schneller, schneller“, schreit der Soldat, als wir in die Züge steigen.
„Schneller, schneller“, eilt jemand hinter mir, als ich einsteige.
10 Jahre später.
„Schneller, Mama, schneller“, ruft meine Tochter mir beim Wettrennen gegen meinen Sohn zu.
„Schneller schneller“, sage ich mir selbst vor, jetzt, als ich meinen ersten Marathon laufe.
Es ist ein Wort, das mich die letzten Jahre begleitet hat, dieses „schneller“. Ob in Momenten der Freude oder Momenten der Trauer - irgendwie hat es dieses Wort geschafft, mich zu prägen. Doch warum spielt Tempo in unserer Gesellschaft so eine große Rolle? Haben wir verlernt, ohne Stress unser Leben zu leben? Müssen wir immer besser, immer stärker, immer schneller werden? Werden wir je so schnell sein, wie wir es wollen? Jagen wir womöglich einem Ziel nach, das unmöglich zu erreichen ist?
Ich weiß, dass es mein momentanes Ziel ist, diesen Marathon zu vollenden. Ich laufe ihn nicht für mich, ich laufe ihn für all die Erinnerungen, die mit dem Wort "schneller“ in Verbindung stehen. Ich laufe ihn für meine kleine Schwester in der Schaukel. Ich laufe ihn für den Menschen hinter mir vor dem Einsteigen in den Zug. Ich laufe ihn für meine Tochter und meinen Sohn. Doch am meisten laufe ich ihn dafür:
„Schneller, schneller“, rufe ich den Rettungssanitäter*innen zu, die zu meinem zusammengekauerten Ich eilen. Ich hocke über meiner kleinen Schwester, die mir in die Augen schaut und ein letztes Mal ihren Mund öffnet. „Tempo, kleine Schnecke“, sagt sie mit einem Lächeln im Gesicht.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:




















Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX