Schrotttempo
Er schlägt auf mich ein. Er reißt und zieht an mir. Ich halte mich fest, will nicht loslassen. Das Eisen ist kalt. Eiskalt. Mein Mantel war einmal rot-weiß gestreift. Jetzt ist er dreckig und mehr rosa als rot. Ein Auto fährt an mir vorbei und Er hält kurz inne. Die Fahrerin würdigt uns keines Blickes. Nur das Kind im Kindersitz schaut mich mit großen Augen an. Ich sehe die Reinheit in seinen Augen. Das Unwissen, das Vertrauen, die Naivität. Zack, weg ist das Auto mitsamt den Augen und er schlägt erneut auf mich ein. Er. Kalt, herzlos und hart. Ich kann mich fast nicht mehr an die Zeit ohne ihn erinnern. Die warmen Sommertage, wo alles noch leicht und einfach war, sind weit weg. Ganz hinten in meinem Gedächtnis. Einfach weggeräumt, so wie das blaue Sommerkleid.
Affentempo, Marschtempo, Entwicklungstempo, Zeitraffertempo, Eiltempo, Kriechtempo, Schneckentempo, Zeitlupentempo, Schritttempo.
Schrotttempo.
So viele Geschwindigkeiten und trotzdem stecke ich fest. Ich halte mich fest, klammere mich regelrecht an das kalte, dreckige Geländer. Ich will nicht mehr hier sein, aber loslassen kann ich nicht. Dafür habe ich keine Kraft. Aber niemand wird mir helfen. Niemand kann mir helfen. Das weiß ich. Niemand bleibt stehen und schaut hinter die Kulisse. Sie sehen nur das dreckige, abgewetzte Material. Wir könnten bei ihnen im Haus wohnen und sie würden es nicht bemerken. Mich und mein Problem nicht. Ihn merken sie schon. Wenn er ihnen durch die Haare fährt und sie danach das perfekte Foto haben. #Freiheit. #keineFreiheit.
Da, ein letzter Schlag, und der Wind reißt mich mit sich. Ich hatte immer Angst vor diesem Moment, doch jetzt fühle ich mich leicht, befreit und endlich endlich ich selbst. Der Flug dauert lange, doch irgendwann lande ich auf der Wasseroberfläche. Eine Zeit lang treibe ich mit dem Wasser mit, bis ich langsam, Stück für Stück immer schwerer werde und Unterwasser bin. Ich schaue hinauf in den Himmel, sehe verzerrte Wolken. Grau-blaue verschwommene Gebilde. Ich habe noch nie so etwas schönes gesehen. Ich schließe die Augen. Endgültig.
Er schaut auf das rot-weiße Absperrband, das der Fluss ans Ufer gespült hat. Es ist dreckig und mehr rosa als rot.
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