Süchtig
Menschen, die süchtig nach etwas sind, seien es Drogen oder Zigaretten, haben eine Krankheit. Sie haben ein ernsthaftes Problem. Sie brauchen Hilfe, um wieder gesund werden zu können. Ich bin auch süchtig. Ich bin süchtig nach einer Stimme. Nach „meiner“ Stimme. Sie ist nur für mich bestimmt. Sie gehört nur mir, nur ich darf ihr zuhören. Bin ich deswegen krank? Brauche ich Hilfe, um wieder gesund werden zu können?
Ich würde diese Stimme überall wiedererkennen. Ich erkenne ihren Klang, ich höre ihrem Tonfall an, wie es ihr geht. Ich weiß ganz genau, wann sie wütend ist, wie sie sich anhört, wenn sie traurig ist und auch wie ihre Worte strahlen, wenn sie glücklich ist. Ein Wort, ein Buchstabe und ich bin weg. Abgetaucht und aufgetaucht in einer völlig fremden Welt. In dieser Welt gibt es nur mich und meine Stimme. Nichts Anderes existiert mehr. Nur Ich, meine Stimme und die Gefühle die meine Stimme in mir auslöst.
Es gibt Tage, da ist die Stimme wütend. Sie schreit mich an und verachtet mich. An solchen Tagen will ich verschwinden, die Stimme alleine lassen. Weg aus dieser Welt, wo es nur mich und meine Stimme gibt. Aber ich kann es nicht riskieren meine Stimme zu verlieren. Wenn ich aus dieser Welt verschwinde, verschwindet auch meine Stimme. Wenn ich gehe, werde ich sie nie wieder hören. Aber ich brauche sie um zu existieren. Sie gibt mir Lebenskraft, ich arbeitet jeden Tag auf den Moment hin, in dem ich meine Stimme wieder hören werde. Das kann ich nicht verlieren. Denn dann würde ich mich verlieren.
Es gibt auch Tage, an denen diese Stimme weich ist, mir schmeichelt, mich anlächelt, mir süße Nichts ins Ohr flüstert. An diesen Tagen verfalle ich in einen Rausch. Ich habe ihre Aufmerksamkeit, sie beachtet mich. Sie redet mit mir und ich darf ihr zuhören. Niemand sonst. Nur ich. An diesen Tagen will ich nie wieder auftauchen aus meiner Welt. Sekunden werden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Stunden in denen ich nur ihr zuhöre, mir nur ihrer Existenz bewusst bin und meine Aufmerksamkeit auf nichts Anderes konzentrieren kann. In diesen Momenten verliere ich mich. Ich vergesse alles. Ich vergesse meinen Namen, ich vergesse wer Ich bin. Für diese Momente lebe ich. Nur dafür.
Aber wenn einem Drogensüchtigem die Droge ausgeht, fällt er. Und wenn ich meine Stimme nicht mehr höre, stürze ich. Sie ist weg, verschwindet für Tage, manchmal für Wochen. Und ich stürze. Stürze in mein Loch, das mit jedem Mal, wenn sie wieder verschwindet, tiefer wird. Hals über Kopf stürze ich hinein. In diesem Loch nehme ich nichts wahr. Ich lebe völlig abgeschottet von der Wirklichkeit. Ich lebe nur mehr in meiner Erinnerung. Daran wie sie sich angehört hat. Daran was sie zu mir und nur zu mir gesagt hat. Daran, dass sie gesagt hat, dass sie mich nie wieder verlassen wird. Diesmal nicht. Aber sie ist weg. Und ich bin hier, in meinem Loch und warte darauf, dass sie zurückkommt. Und wenn sie wieder da ist, bin auch ich wieder da. Wenn sie lebt, lebe ich auch.
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