Schwarzer Sand
Dawid senkte den Kopf mit dem Schafsgesicht und hielt den Atem an.
Er hörte den Tod näher kommen. Regungslos verharrte er auf allen vieren. Die Schritte hielten direkt vor ihm. Er begann unter dem Schafspelz zu schwitzen.
Entgegen aller Erwartung war der Tod ein dicker Mann, der nur mit Mühe die Sense in seinen speckigen Finger halten konnte. Der Tod musterte das Schaf eindringlich. Ein starker Verwesungsgeruch hing in der Luft. Das Schaf zeigte keine Lebenszeichen. Der Tod runzelte die Stirn. Aber wieso hörte er dann ein Herz schlagen? Dawid warf sich mit voller Kraft gegen die fetten Knie; mühelos rang er den Tod zu Boden. „Nicht!“, quiekte dieser: „Du weißt nicht was du tust! "
Stille. Ein entferntes Rauschen hallte in der riesigen Höhle. Dawid richtete sich auf. Er streifte sich den Schafspelz von den Schultern und nahm das Schafgesicht vom Kopf. Eine Fackel in der Hand, stieg er über den dicken Mann am Boden. Alles verlief nach Plan. Nach kurzer Suche fand er das Konstrukt, von dem das Leben der Menschheit abhing.
Hölzerne Halterungen ragten in die Finsternis eines bodenlosen Abgrunds. Am Ende der Halterungen waren halbkugelförmige Glasschalen angebracht. Einer Sanduhr gleich, rieselte schwarzer Sand durch eine Öffnung in den Abgrund darunter. Die Schale die Dawids Lebenszeit maß, enthielt nur noch wenige Körner.
Dawid füllte den Sand einer benachbarten Schale in seine um. Sein Leben war vorerst gerettet. Aber schon während er dem Abgrund dem Rücken kehrte, war Sandkorn für Sandkorn seiner Lebenszeit verronnen. Dawid füllte mehr schwarzen Sand nach. Aber wie viel Zeit, ist ausreichend Lebenszeit? Dawid wollte nicht sterben. Er wollte zukünftige Menschen und Epochen kennenlernen und den Wandel der Welt sehen. Gierig füllte er seine Schale.
Die Holzhalterung bog sich unter dem Gewicht des Sandes. Doch Dawid schien immer noch nicht zufrieden. Er hörte ein ungesundes Lachen an seinem Ohr. "Du hast wohl nie genug, wie?“, fragte der Tod: "Keine Angst, ich will dich nicht aufhalten. Bedien dich! Meine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass der Sand fließt. Durch welches Glas er fließt, ist Sache der Menschen.“ Die Dunkelheit schluckte seine Silhouette.
Dawid fiel es wie Schuppen von den Augen. Er musste den Sandfluss unterbrechen. Nur so konnte er ewiges Leben erlangen. Er zerriss den Schafspelz und stopfte die Öffnung am Boden der Glasschale.
Für einen kurzen Moment war es ruhig. Dann hörte er Holz splittern und die Glasschale stürzte in den Abgrund. Dawid schaute ihr nach wie sie langsam kleiner wurde und in der Finsternis verschwand. Weit hinter sich hörte er den Tod lachen.
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