Seiltänzer
Schwarz. Ich beginne wieder zu taumeln. Nicht nach unten sehen. Nur ein Fehltritt und ich falle unkontrolliert in die Tiefe. Nur keinen Fehler machen. Das Seil wackelt unter meinen schmerzenden Füßen. Ich blicke nach vorne, doch der sichere Klippenrand ist noch weit entfernt. Mit zittrigen Beinen balanciere ich einen Schritt weiter. Nur keinen Fehler machen. Nur keinen Fehler machen. Das Drahtseil bohrt sich in meine Fußsohle. „Ich will hier weg. Ich will das alles nicht mehr“, flüstere ich mir selbst zu. Stille. Ich bin allein. Niemand kann mir helfen. Nur keinen Fehler machen. Ich wage noch einen wackeligen Schritt nach vorne. Nur keinen Fehler machen. Nur keinen Fehl…das Drahtseil wackelt gefährlich unter mir und ich versuche verzweifelt mein Gewicht gleichmäßig zu verlagern. Doch es ist aussichtslos. Beim Versuch mich zu retten, rutscht meine vom Angstschweiß feuchte Hand ab. Ich stürze kopfüber in die Tiefe. Orientierungslos falle ich immer weiter. Ich schließe meine Augen und bereite mich auf den Aufprall vor. Nichts.
Wieder mal nichts. Mein Herz klopft zwar schneller, aber es klopft. Ich lebe. Ich bin kein Seiltänzer hoch über irgendeiner Klippe, ich sitze bloß hier. In diesem stinknormalen Klassenzimmer. Kein Abgrund weit und breit. Auch wenn der Test nicht gut läuft, ist es kein Untergang. Doch egal wie oft ich mir das sage, reißt es mich in den Gedankenstrudel. Wo finde ich wieder raus? Nur keinen Fehler machen. Immer muss ich kämpfen und bei anderen sieht es so einfach aus. Sobald ich funktionieren muss, wirft mein Kopf die Zweifelmaschine an. Was denkst du, wer du bist? Du wirst es wieder verkacken! Schau dich doch mal an, du kannst das niemals schaffen!
Ich wäre so gern ein starker Baum, tief verwurzelt im Leben, nicht einmal ein Wirbelsturm könnt mir die Ruhe nehmen. Wenn ich mich so umsehe, kann ich niemanden wie mich erkennen, bin ein einzelnes Schilfrohr in einem Wald aus starken Eichen.
Immer wieder steige ich ein in die Besser-weiter-schneller-Achterbahn, obwohl ich weiß, ich bin nicht schwindelfrei. Doch ich kann es nicht lassen. Ich kann es nicht abstellen. Verdammt ich will es abstellen.
„Hey! Alles gut?“ Ich nicke nur stumm und mache mir keine große Mühe, mein Unwohlsein zu verbergen. Sie kennt mich immerhin schon lange genug, um zu wissen, dass mein Nicken nicht echt ist. Mitfühlend sieht sie mich an und nimmt meine Hand. „Ich weiß, ich hab auch keinen Bock auf den Mathetest.“ Sie nimmt einen pinkfarbenen Leuchtstift und kritzelt auf meiner Hand herum. „Voilà!“ DU SCHAFST DAS! Steht in Großbuchstaben auf meinem Handrücken. Ist das ihr Ernst? DU SCHAFST DAS? Mit einem F? Wissend erwidert sie meinen kritischen Blick mit einem schiefen Grinsen. „Es lebt sich auch gut mit ein paar Fehlern, weißt du?“ Den Rest der Pause gelingt es mir, die Zweifelmaschine ruhig zu halten.
Ich blicke wieder in die Tiefen der Schlucht. Nur keinen Fehler machen. Mit zitternder Hand versuche ich die erste Aufgabe zu lösen. Nur keinen Fehler machen. War die Antwort drei? Oder vielleicht doch vier? Nur keinen Fehler machen. Ich spüre das wackelige Drahtseil unter mir und mein Atem wird schneller. Nur keinen Fehler machen. Nur keinen Fehler machen… Mein Kopf beginnt zu dröhnen. Nur keinen Fehler machen. Ich rutsche immer weiter ab. Vergeblich versuche ich mein Gleichgewicht zurückzuerlangen. Ich stürze in die Tiefe. Nein, bitte nicht! Mein Blick fällt auf die krakelige Schrift auf meinem Handrücken. Du schafst das. Irgendetwas verändert sich an meinem Fallen. Du schafst das. Ich schließe meine Augen und atme aus. Du schafst das. Und plötzlich falle ich nicht mehr. Ich schwebe.
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