Sein Schatten
Jeden Tag sehe ich ihn.
Erinnerungen, Fotos und dann die Momente, wenn ich ihn sehe. Mit den anderen. Wie sie im Park sitzen, über seine Witze lachen. Die anderen schauen mich nur komisch an, wenn ich ihn beobachte. Er war doch so beliebt, ich nicht.
Mein großer Bruder, der Stolz der Familie. Wenn er durch die Schulhalle ging, war plötzlich jeder glücklicher. Er hatte immer ein Lächeln auf den Lippen. Er war so glücklich. Wenn ich ihm in der Cafeteria zuschaue, fragen mich viele, was ich mache. Wenn ich ihnen sage, ich beobachte nur meinen Bruder, verändern sie sich. Ihre Schatten werden kleiner, ihr Blick wird hohler, sie werden stummer. Ich habe angefangen so etwas zu bemerken. Warum tun sie das wohl? Es ist doch nur mein Bruder. Zuhause passiert etwas Komisches, es ist verwirrend. Mein Bruder kommt zu mir, „Lass mich gehen“, sagt er. Was meinst du? Ich verstehe nicht, du kannst doch zur Party gehen.“ "Nein, Laila" sagt er traurig, "lass mich gehen. " Meine Mutter kommt herein, „Mit wem redest du? " "Mit deinem Sohn", sage ich scherzhaft. Die Farbe weicht aus ihrem Gesicht
„Laila, du … du musst ihn gehen lassen“, sagt sie mit zitternder Stimme. Langsam verstehe ich niemanden mehr. Mein Bruder, der dort steht, meine Mutter die mich entsetzt anschaut, „Mama, lass uns jetzt, ok?“ Plötzlich fängt sie an zu schreien. Warum schreit sie, was habe ich gemacht? Dein Bruder ist tot, Laila! Er hat sich umgebracht, ok? Finde dich damit ab! Er ist nicht mehr da!“ Seine Stimme, Ja das stimmt, Laila.
Nein, er war so glücklich, er war immer glücklich. „Er hat das nicht getan“, schreie ich. Niemand mehr da, meine Mutter weint draußen. Mein Bruder weg. Alle sind so komisch zu mir. Ich will nicht, dass es so ist. Ich weigere mich wie ein kleines Kind, es zu begreifen, sagen die Psychologen. Aber er ist doch da. Überall sehe ich ihn. Ich fange an zu verstehen und langsam, sehr langsam, verblassen seine Gesichtszüge, seine Stimme wird leiser. Ich tue so, als hätte ich damit abgeschlossen, aber ganz verstehe ich es nicht. Er ist tot, aber er ist doch da. . . Warum hat er das getan?
Die Erinnerungen tun zu sehr weh. Alles was ich anschaue, ist zu schmerzhaft. Es fühlt sich an als würde mein Kopf zerbrechen. Alles tut weh. „Geh, bitte, geh einfach!“ schreie ich, wenn es schlimmer wird. Er muss gehen ich muss abschließen! Ich hasse diese Gedanken, ich will keine schlechte Schwester sein. Wenn ich ihn loslasse, ist er für immer fort. Ich wünschte, er könnte bleiben. Er kann sich doch nicht umgebracht haben. Er war immer glücklich. Aber ich merke, wie ich ihn verliere und mich selbst auch. Und so flüstere ich jeden Abend, „Geh, bitte, lass mich weiter leben, ich kann nicht mehr so leben, wenn du da aber auch nicht da bist“, in die Richtung des Zimmers meines Bruders, das nie wieder mit seinem Lachen gefüllt sein wird. Seine Silhouette verblasst und ein letztes Mal flüstere ich ihm, „Geh, bitte“, zu. Nie wieder werde ich ihn sehen, ich habe losgelassen.
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